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# taz.de -- Sexuelle Identitäten und Politik: Diese befreiende Leere
> Der neue Band „Ein Apartment auf dem Uranus“ des Queer-Theoretikers Paul
> B. Preciado dokumentiert die Transformation des eigenen Körpers.
Bild: „Mein Transkörper existiert nicht“, erklärt das „sujet perdu“ P…
Mit Wörtern überschüttet wird, wer [1][Paul B. Preciado] liest. Und dabei
liest, und immer wieder liest, warum Geschlecht, Sex, Subjektivität
mächtige Fiktionen sind, die den Menschen starre Identitäten aufzwingen,
ihre Lust ausbeuten, ihnen die Vielfalt ihrer Potenziale rauben.
„Nekropolitik“ nennt Preciado das: Menschen dazu bringen, zu „leben, als
seien sie bereits tot“.
Aus der Zeit von 2013 bis 2018 stammen die ausgewählten Texte im neuen Band
des ikonischen Queer-Theoretikers mit dem Titel [2][„Ein Apartment auf dem
Uranus“], die zuerst als Kolumnen in der französischen Zeitung
[3][Libération] erschienen. Auch eine Reihe konkreter Tode dokumentiert
Preciado darin: der Geflüchteten im Mittelmeer, der katalanischen
Unabhängigkeitsbewegung, der Beziehung Preciados zur Schriftstellerin
Virginie Despentes, schließlich des Namens und der „Rechtsfiktion“ Beatriz
Preciado.
Als Mann anerkennen ließ sich Preciado in dieser Zeit des Wandels nämlich.
Aber diese Anerkennung erfolgt, wie er minutiös dokumentiert, trotz der
offensichtlichen Sprengung der binären Geschlechterordnung nur innerhalb
dieser Ordnung, nur um den Preis, „dass ich mich zuvor als dysphorisch,
also als gestört betrachte“.
Um seinem Antrag auf den neuen Vornamen Paul stattzugeben, zwingt der Staat
ihn zu einer ärztlich begleiteten Hormonbehandlung, und zerstört
kurioserweise alle Spuren von Beatriz, inklusive der auf ihren Namen
ausgestellten Geburtsurkunde. Dabei sei der Körper, den der neue Name
repräsentiert, doch selbst uneindeutig: „Ich bin kein Mann, keine Frau,
nicht heterosexuell, nicht homosexuell, nicht bisexuell. Ich bin ein
Dissident des Geschlecht/Geschlecht-Systems. Ich bin die Vielfalt des
Kosmos“.
## Leeres Haus
Dem Kosmos eignet Leere. „Mehr als einen Monat wohne ich nun in diesem
leeren Haus“, heißt es an einer Stelle. „Ohne Möbel ist ein Haus nicht me…
als eine Tür, ein Dach, ein Boden.“ Keine Möbel heißt auch kein Bett:
„Meine Hüften wurden gegen den Holzboden gequetscht, und morgens stand ich
mit geschwollenen Gliedern auf.“ Für Preciado bedeutet das allerdings
weniger eine Qual als eine „ästhetische Erfahrung“.
Wenn Transkörper die „Gewalt des Benanntwerdens“ am deutlichsten zu spüren
bekommen, dann ist das so, als schliefen sie immer auf dem Boden, ohne
Bett, ohne Matratze. Wenn jedoch, umgekehrt, Benanntwerden immer mit Gewalt
verbunden ist, dann schränkt der Komfort der Möbel und Polster gerade
diejenigen am stärksten ein, die der Norm am treuesten bleiben. Dann bietet
umgekehrt gerade der Versuch, sich jeder Benennung zu entziehen und den
Körper wie ein leeres Apartment zu bewohnen, die Chance auf Befreiung.
„Mein Transkörper ist ein leeres Haus. Ich nutze das politische Potenzial
dieser Analogie.“
Theorie schließt für Preciado immer die Praxis ein, den Selbstversuch. Im
„Kontrasexuellen Manifest“gab er Anleitungen zur dekonstruktiven
Dildobenutzung, in „Testo Junkie“ experimentierte er mit Testosteron –
ohne Verschreibung, als Werkzeug zur Erschütterung der
Zweigeschlechtlichkeit.
In den Kolumnen ist es das Reisen: zwischen Barcelona und Kassel, zwischen
Athen und Paris, zwischen dem Ausbruch aus der (Geschlechter-)Norm und
ihrer Erfüllung, zwischen gewaltsamem Ausschluss und überschwänglichem
Einschluss als „ ‚Wappentier‘ einer fortschrittlichen
Gesellschaftspolitik“. An jeder Grenze, an jedem Flughafen wartet dabei das
„Theater“ der Subjektivierung: Mann oder Frau. „Mein Transkörper existie…
nicht“, erklärt das „sujet perdu“ Preciado. Zumindest nicht in den Augen
des Gesetzes.
## Wer ist das Wir?
Die Lösung: „unsere Differenz in die Sprache der Norm übersetzen, während
wir insgeheim fortfahren, uns in einem fremdartigen Kauderwelsch zu üben,
das das Gesetz nicht versteht“. Aber hier liegt auch eine der Schwächen des
Buches. Denn wer genau ist eigentlich dieses „Wir“, das da spricht? Und wer
das Ihr?
Gerade im nachgestellten Aufsatz „Vom Virus lernen“, der aus dem März
dieses Jahres stammt, zeigt sich ein Hang zur Verwendung theoretischer
Begriffe als diskursive Rasenmäher, der dem Giorgio Agambens nicht
unähnlich ist. Warum sollen die allenthalben geforderten „Lockerungen“ denn
nicht ebenso wie die Shutdowns der Ausdruck einer ganz eigenen „Immunologie
der Gemeinschaft“ sein? Warum hält Preciado nur ein spezifisches
„biopolitisches Dispositiv“ für maßgeblich? Ist die Gesichtsmaske, wie er
schreibt, wirklich das neue Mittelmeer?
Im Angesicht eines neu formierten Feindes, einer Allianz aus autoritärem
Neoliberalismus und salonfähigem Rassismus, setzt Preciado in den Kolumnen
auf eine queere „Subjektivität im Plural“, auf den Kurzschluss aller
Ausgeschlossenen: der Rassifizierten, Queers, Behinderten, Affen, Hunde,
und, natürlich, der Katalon*innen. (Jüd*innen gehören dieser Gegenallianz
dagegen nur als Metaphernreservoir an, wie die Rede von „der
fortschreitenden Transformation der Flüchtlingscamps in
Konzentrationslager“ zeigt.)
Aber wie viel haben sie alle denn wirklich gemein? Und bestünden die
auszuübenden „Mikropolitiken des Übergangs“ nicht gerade darin, einmal
nicht auf das große Ganze bezogen zu sein?
29 Jun 2020
## LINKS
[1] /Rotierende-Betten-und-mehr/!5102074&s=preciado+beatriz/
[2] https://www.suhrkamp.de/buecher/ein_apartment_auf_dem_uranus-paul_b_preciad…
[3] https://www.liberation.fr/auteur/13780-paul-b-preciado
## AUTOREN
Adrian Schulz
## TAGS
Queer
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Biografie
Schwerpunkt Coronavirus
Virginie Despentes
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