| # taz.de -- Zum 100. Geburtstag von Hans Blumenberg: Deutschland blieb ihm unhe… | |
| > Rüdiger Zill legt mit „Der absolute Leser: Hans Blumenberg“ eine | |
| > „intellektuelle Biographie“ vor. Es ist ein monumentales Werk über den | |
| > Philosophen. | |
| Bild: Der Philosoph Hans Blumenberg war von Zusammenbrüchen und Neuanfängen d… | |
| Es ist ein sinnvoller Zufall, dass sich in diesen Tagen der 70. Geburtstag | |
| des Suhrkamp Verlages sowie der 100. Geburtstag Hans Blumenbergs zusammen | |
| jähren. War doch Hans Blumenberg Mitte/Ende der 1960er Jahre gemeinsam mit | |
| Jürgen Habermas, Dieter Henrich und Jacob Taubes einer der Herausgeber der | |
| renommierten „Theorie“-Reihe des damals noch in Frankfurt am Main | |
| ansässigen Verlages. | |
| Blumenberg, diesem von allen Genannten wahrscheinlich am wenigsten | |
| bekannten Philosophen, hat nun der am Einstein Forum Potsdam wirkende | |
| Philosoph Rüdiger Zill eine Biographie gewidmet, die auf lange Zeit | |
| ihresgleichen suchen dürfte. Folgt sie doch dem Leben und den | |
| Lebensstationen ihres Protagonisten so weit wie überhaupt nur möglich auf | |
| das Akribischste, ohne auch nur einen einzigen Beleg schuldig zu bleiben. | |
| Zills beinahe sechshundert Seiten langer Text ist in drei große Kapitel | |
| unterteilt. | |
| Während das erste, beinahe 400 Seiten lange Kapitel die „Beschreibung eines | |
| Lebens“ umfasst und der wechselvollen, mühsamen akademischen Karriere der | |
| Hauptperson nachgeht, gilt das zweite Kapitel – es zählt nur knapp 50 | |
| Seiten – den Schwierigkeiten des Philosophen, eine Form sowie einen Verlag | |
| zu finden, während erst das dritte – vom Autor dieser Zeilen ungeduldig | |
| erwartete – Kapitel, es ist 170 Seiten lang – von den philosophischen | |
| Inhalten des Denkers und Lesers handelt. | |
| Indes, für LeserInnen, die philosophisch im weitesten Sinne an kritischer | |
| Theorie interessiert sind, präsentiert diese Biographie eine Welt, die | |
| ihnen weitestgehend fremd sein dürfte: den Kosmos einer noch nicht | |
| sprachanalytisch aufgeklärten, von Phänomenologie, Idealismus und Klassik | |
| geprägten Universitätsphilosophie, der Gesellschaftskritik trotz oder wegen | |
| der erst kurz zurückliegenden NS-Zeit weitestgehend gleichgültig war. | |
| ## Die instrumentelle Weltbeherrschung des neuzeitlichen Menschen | |
| Was nicht verwundert, da nicht wenige ihrer Vertreter überzeugte oder doch | |
| mitlaufende Nationalsozialisten waren. Um welche Themen ging es? | |
| Nicht nur Heidegger oder Adorno, auch die damals prominente | |
| phänomenologische Philosophie war von der Frage nach der Technik, der | |
| instrumentellen Weltbeherrschung des neuzeitlichen Menschen umgetrieben. So | |
| auch Hans Blumenberg, der, 1920 geboren, als Sohn einer evangelisch | |
| getauften Jüdin und eines katholischen Vaters nicht an einer deutschen | |
| Universität studieren durfte und sich anstatt dessen seit Kriegsbeginn an | |
| katholisch-philosophischen Hochschulen einschrieb. | |
| Blumenbergs äußerst vielfältiges Werk erreichte seinen ersten Höhepunkt | |
| Jahrzehnte später mit zwei thematisch verwandten Werken, der 1966 | |
| publizierten „Legitimität der Neuzeit“ sowie der 1975 erschienenen „Gene… | |
| der kopernikanischen Welt.“ | |
| Im Anschluss an seinen akademischen Lehrer Ludwig Landgrebe, der ebenfalls | |
| von den Nationalsozialisten verfolgt worden war, war auch Blumenberg von | |
| Zusammenbrüchen und Neuanfängen im Lauf der Weltgeschichte fasziniert, | |
| umging jedoch den nur kurz zurückliegenden, tatsächlichen Zusammenbruch der | |
| deutschen Kultur weitestgehend. Die eigene Verfolgungs- und | |
| Diskriminierungserfahrung wurde – psychoanalytisch gesprochen – | |
| weitestgehend, wenn auch nicht völlig, verdrängt und schon gar nicht | |
| systematisch bearbeitet. | |
| ## Kein Weltgericht sein wollen | |
| Gleichwohl ist eine kurze Glosse überliefert, in der Blumenberg einen | |
| anonymen Adressaten auf den Philosophen Erich Rothacker anspricht, der ein | |
| überzeugter Nationalsozialist war. Rüdiger Zill vermutet, dass als Adressat | |
| der Glosse möglicherweise Jürgen Habermas firmierte. | |
| In der Glosse heißt es: „Sie haben bei E. R. [Erich Rothacker, M. B.] | |
| promoviert … Haben Sie jemals danach gefragt, was er zwischen 1933 und 1945 | |
| alles getan hat? Ich war“, so Blumenberg weiter, „mit E. R. befreundet. Ich | |
| mochte ihn. Ich habe gefragt, was er zwischen 1933 und 1945 alles getan | |
| habe. Ich bin trotzdem bis zu seinem Tode mit ihm befreundet geblieben. Ich | |
| wollte nicht sein, was ich nicht zu sein brauchte: das Weltgericht.“ | |
| 1996, kurz vor seinem friedlichen Tod, schrieb Blumenberg zudem einem | |
| Freund anlässlich eines Briefwechsels zum Werk Thomas Manns. | |
| „Mir ist dieses Land unheimlich geblieben, obwohl ich es nur selten | |
| verlassen habe. […] In diesem Land hat sich nichts in Luft aufgelöst, was | |
| Hitler möglich gemacht hatte und mit der Harmlosigkeit der (geklauten) | |
| Lieder der Jugendbewegung und dem besinnungslosen Frenetismus begann und | |
| mit dem ‚Eintopfsonntag‘ fortsetzte. […] Ist es nur Zufall, daß einer der | |
| Antreiber zum neuen Schnüffeln ‚Töpfer‘ heißt, der seine Gesetze wie | |
| ‚Ermächtigungsgesetze‘ zu ‚Verordnungen‘ handhabte und uns zum | |
| Müllsortieren demütigte.“ | |
| Hans Blumenberg, das erfahren wir aus Rüdiger Zills monumentaler Biographie | |
| genauestens, war ein sehr guter Kenner des Werks von Sigmund Freud, dessen | |
| Psychoanalyse er als „Instrument geschichtlichen Verstehens“ schätzte. Ob | |
| ihm in seinem Leben jemals der Gedanke kam, dass sein ganzes, monumentales | |
| philosophisches Lebenswerk auch (!) das Werk der Verdrängung war – der | |
| Verdrängung eines schwer traumatisierten Verfolgten? | |
| 13 Jul 2020 | |
| ## AUTOREN | |
| Micha Brumlik | |
| ## TAGS | |
| Biografie | |
| Philosophie | |
| Politisches Buch | |
| Politisches Buch | |
| Buch | |
| Politisches Buch | |
| Queer | |
| Schwerpunkt Rassismus | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Buch über Philosophen Edmund Husserl: Der Fröhlichkeit kann man nachhelfen | |
| Der Wissenschaftler Christian Beyer stellt in seinem Buch „Husserls | |
| Philosophie“ das Werk eines der einflussreichsten Philosophen des 20. | |
| Jahrhunderts vor. | |
| „Reiseberichte“ von Siegfried Unseld: Ein Mensch mit Gefühlen | |
| Die dienstlichen „Reiseberichte“ des Suhrkamp-Verlegers Siegfried Unseld | |
| lesen sich wie ein Entwicklungsroman. Eine Auswahl ist als Buch erschienen. | |
| Doppelbuch über Spekulative Poetik: Wir sind ein Gespräch | |
| Bisweilen sehr theoretisch, ebenso auch pointiert: Armen Avanessian und | |
| Anke Hennig führen in „I – I“ und „ONE + ONE“ einen nachdenklichen T… | |
| Sexuelle Identitäten und Politik: Diese befreiende Leere | |
| Der neue Band „Ein Apartment auf dem Uranus“ des Queer-Theoretikers Paul B. | |
| Preciado dokumentiert die Transformation des eigenen Körpers. | |
| Immanuel Kant und der Rassismus: Lasst das Denkmal stehen | |
| Immanuel Kant hatte rassistische Vorurteile. Aber er war ein Gegner des | |
| Kolonialismus und glaubte keineswegs an „verschiedene Arten von Menschen“. |