# taz.de -- „Reiseberichte“ von Siegfried Unseld: Ein Mensch mit Gefühlen | |
> Die dienstlichen „Reiseberichte“ des Suhrkamp-Verlegers Siegfried Unseld | |
> lesen sich wie ein Entwicklungsroman. Eine Auswahl ist als Buch | |
> erschienen. | |
Bild: Siegfried Unseld (rechts) im Jahr 1968 mit Heinrich Böll und Theodor W. … | |
Man könnte die Frage, die der Literaturkritiker Friedrich Luft in einem | |
Interview dem Suhrkamp-Verleger Siegfried Unseld gestellt hat, durchaus als | |
Affront auffassen, ob es nämlich nicht „irgendwie niederdrückend sei, immer | |
nur mit großen Leuten zusammenzusein“ – mithin selber offensichtlich nicht | |
zu den Großen zu gehören. Und man kann sich darüber wundern, dass der | |
derart Befragte dieses Vorkommnis selbst kolportiert – im Kontext einer | |
unleugbaren Demütigung. | |
Im Mai 1971 weilt Unseld in New York, wo einer seiner Star-Autoren, Max | |
Frisch, den 60. Geburtstag feiert, unter anderem im Rahmen eines von | |
Suhrkamp ausgerichteten und finanzierten Empfangs. Dennoch zeigt sich | |
Frisch gekränkt, weil er mehr Aufmerksamkeit erwartet hatte. Sein | |
narzisstischer, verletzender Zornesausbruch führt bei Unseld zu einer | |
Einsicht, die nicht zufällig in allen Rezensionen seiner „Reiseberichte“ | |
zitiert wird. | |
Er habe bis dato geglaubt, „daß es auch Freundschaft in der Beziehung | |
zwischen Autor und Verleger geben könne“, nun aber wisse er, „daß das | |
vielleicht nicht oder nicht mehr möglich sein kann und daß ich mich darauf | |
einstellen muß, das Rettungsmittel kann nicht Liebe sein, sondern nur | |
Arbeit.“ Daß auch der Verleger „ein Mensch mit Gefühlen ist, wer denkt | |
schon daran.“ | |
Es dürfte kein Zufall sein, dass der Herausgeber der Berichte, der im April | |
gestorbene Suhrkamp-Cheflektor Raimund Fellinger, just diese Passage im | |
Zentrum des Bandes platziert, als wäre sie ein Wendepunkt in der Karriere | |
und im Selbstverständnis Unselds. | |
Der war zum Zeitpunkt des New Yorker Eklats seit einem Dutzend Jahren | |
Suhrkamp-Chef. 1959, erst seit sieben Jahren bei Suhrkamp und erst 35 Jahre | |
alt, hatte er den verstorbenen Peter Suhrkamp als Verleger beerbt. Nur zehn | |
Tage später trat er seine erste Dienstreise an, nach Ostberlin, wo es um | |
das Erbe Brechts ging, und schon über diese Dienstreise fertigt Unseld | |
einen Bericht an die Mitarbeiter an. | |
## Protokolle von Versäumnissen | |
Rund 1.500 solcher Berichte gibt es, 35 davon hat Fellinger | |
zusammengestellt. Unseld machte sich Notizen, auf deren Basis er einen Text | |
diktierte, gelegentlich auch selbst niederschrieb. Diese Texte gingen an | |
Verlagsangestellte und enthalten Entsprechendes: Anweisungen, Anregungen, | |
Protokolle von Versäumnissen, manchmal direkt an einzelne Mitarbeiter | |
adressiert, manchmal im kollektiven „wir“ gehalten. | |
Erstaunlich ist, dass viele Berichte weit über Dienstliches hinausgehen, | |
nicht nur wenn Unseld Begegnungen mit Autoren schildert – der alte Beckett | |
im Pariser Altenheim, Hrabal Bier trinkend in Prag, Djuna Barnes in enger | |
Einzimmerwohnung in New York –, sondern Reiseimpressionen wiedergibt, | |
gelegentlich originell bildhaft: „Der Fujiama stach schwarz in den | |
edition-suhrkamp-farbenen Nachthimmel.“ | |
Man erinnert sich an Unseld als patriarchalisch auftretenden Mann, groß, | |
kräftig, mit kantigem Kopf und markiger Diktion – so vital tritt er auch | |
hier in Erscheinung. Irritierend die unerschöpfliche Energie, das | |
unfassbare Pensum, das er auf den Reisen abspult: Termin reiht sich an | |
Termin, Verhandlungen mit Agenten und Autoren, zwischendurch wird ein wenig | |
lektoriert, dann geht es zu Buchhandlungen, um für den Verlag zu werben und | |
etwa in einem Stuttgarter Laden zufrieden festzustellen: „Man hatte auch | |
schon Verkäufe zu verzeichnen“. | |
## Von Literatur besessener Geistesmensch | |
Unseld ist immer auf Empfang, begierig nach Informationen, darauf aus, bloß | |
keine wichtigen Literaten und Literaturen zu übersehen: „Die Überwachung | |
der russischen Literatur scheint vordringlich.“ Das alles mit dem Anspruch, | |
aus dem Frankfurter Verlag ein weltweit führendes Haus zu machen. „Fast | |
jeder polnische Autor fällt um, angesichts eines Angebots von möglichst | |
vielen harten DM“: Durch und durch Geschäftsmann ist Unseld, und als | |
solcher – was Wunder – von den Autoren wahrgenommen. | |
Die komplizierte Geld-Beziehung zu Thomas Bernhard ist ebenso bekannt wie | |
die mäzenatische zum ständig Manuskripte versprechenden, aber nie | |
liefernden Wolfgang Koeppen. All das kommt nicht zu kurz in Fellingers | |
Auswahl. Doch es gibt eben auch diesen von Literatur besessenen | |
Geistesmenschen, dem es offensichtlich nicht gereicht hat, schon recht bald | |
zu einer umworbenen Person des öffentlichen Lebens geworden zu sein, die | |
vom Bundespräsidenten zum Staatsbesuch nach Moskau eingeladen wird. | |
Diese Spannung macht das Buch seinerseits spannend. Obwohl es manche | |
Banalitäten aufweist und gerade weil es darauf verzichtet, mittels | |
Anmerkungen Zusammenhänge herzustellen und Personen zu identifizieren, | |
lesen sich die Reiseberichte nicht nur wie Bruchstücke jener Autobiografie, | |
die Unseld schreiben wollte, sondern fast wie der Bildungsroman einer | |
eigenwilligen Figur, die vom durch [1][Hermann Hesse] protegierten | |
Verlagsmitarbeiter zum prominentesten Alphatier der Branche aufstieg und | |
diese in einer Weise dominierte, wie es heute nicht mehr vorstellbar ist. | |
2 Aug 2020 | |
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## AUTOREN | |
Thomas Schaefer | |
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