| # taz.de -- Sammelband über Underground-Literatur: Acid nach Feierabend | |
| > Die Anthologie „Die untergründigen Jahre“ erzählt über Literatur absei… | |
| > vom Mainstream in Westdeutschland seit den 1970ern. | |
| Bild: Querfeldein-Ralley: mit dem Mofa durch die Peripherie Düsseldorfs | |
| Hans Magnus Enzensberger hat 1980 kurzen Prozess gemacht. „Widerstandslos, | |
| im großen und ganzen, / haben sie sich selbst verschluckt, / die siebziger | |
| Jahre“, schreibt der Dichter und Schriftsteller in „Die Furie des | |
| Verschwindens“. „Daß irgendwer ihrer mit Nachsicht gedächte, / wäre zuvi… | |
| verlangt.“ Der allgemeine Befund stimmt nicht mehr so ganz. | |
| Kulturhistoriker und Literaten haben schon seit einiger Zeit ein Auge auf | |
| die Siebziger geworfen und nicht ohne Nachsicht über diese Dekade | |
| geschrieben. Die Literaturwissenschaft hat sich bisher vornehm | |
| zurückgehalten. | |
| Mit den Stichworten Neue Subjektivität, Alltagslyrik, Pop hat sie gerade | |
| mal jene Exponenten ein- und oftmals auch wegsortiert, die es in die | |
| Mainstream-Verlage geschafft haben: also Rolf Dieter Brinkmann, [1][Jörg | |
| Fauser], [2][Wolf Wondratschek], Nicolas Born, Jürgen Theobaldy, Michael | |
| Buselmeier, Karin Kiwus, Ursula Krechel et alii. Aber das „Jahrzehnt der | |
| Underground-Literatur“, so formuliert es der Schriftsteller Peter Salomon, | |
| „existiert bislang nicht in den Literaturgeschichten“. Salomon und die | |
| anderen Autoren des Sammelbands „Die untergründigen Jahre“ liefern einiges | |
| Material für diese noch zu schreibende Geschichte der Alternativliteratur. | |
| „Das,Kapital', erster Band, lag aufgeschlagen auf meiner Schreibplatte auf | |
| zwei Böcken, und um nicht ständig Vorhaltungen über die fehlende | |
| gesellschaftliche Funktion der Literatur im Spätkapitalismus zu hören, | |
| schob ich den Wälzer über meinen dünnen Stapel Manuskriptblätter, sobald | |
| sich jemand aus dem Umkreis der antiautoritären Zirkel der Tür näherte: | |
| seine oder ihre Abneigung gegenüber Lyrik, Poesie konnte ich voraussetzen“, | |
| erinnert sich Jürgen Theobaldy mit leichtem Gruseln an diese Jahre. | |
| „Einmal hob ein junger Revoluzzer im Ledermantel beim Weggehen ein gerade | |
| herumliegendes Buch an und meinte, mit Blick auf den Titel:,Damit machen | |
| wir dann auch Schluß.'“ Gemeint ist Gert Jonkes „Geometrischer | |
| Heimatroman“. Theobaldy ist ein Linker, er marschiert mit, aber er will | |
| eben trotzdem auch weiter Lyrik schreiben. „Das Gedicht im Handgemenge“, so | |
| heißt einer seiner Aufsätze damals. | |
| Politische Desillusionierung als Triebkraft | |
| Die sich bald konsolidierende Szene der Minipressen mit ihrer geradezu | |
| explodierenden Zahl von „Little Mags“ lässt sich wohl auch als eine | |
| Reaktion auf die politische Desillusionierung nach 1968 verstehen, auf die | |
| Selbstzerfleischung der Linken und nicht zuletzt auf die schwer erträgliche | |
| Bürokratisierung ihrer Gebaren und Sprache. Man wollte schlicht den | |
| Hedonismus der Anfänge wieder zurück, die Literatur sollte nicht länger | |
| tot, sondern geradezu ein Antidot sein gegen die absurden Fraktionskämpfe. | |
| „Die politischen Entwicklungen in der Studentenschaft, der Aufbau von immer | |
| neuen Kommunistischen Parteien zerstörten mein Geschäftsmodell“, erinnert | |
| sich der Raubdrucker Detlef Michelers. „Ich konnte den ideologischen | |
| Auseinandersetzungen nicht folgen, mir wurde Prügel angedroht, weil ich die | |
| falschen Bücher druckte.“ Michelers sattelt zunächst um auf Songbooks von | |
| Dylan, The Doors und Jimi Hendrix und spielt bald darauf in der Bremer | |
| Literaturszene als Veranstalter, Verleger, Herausgeber und Autor eine | |
| wesentliche Rolle. Sein Beispiel zeigt den egalitären Impuls, der in diesem | |
| Paradigmenwechsel steckte. Es durften eben nicht mehr nur Akademiker | |
| mitspielen. Michelers hatte als Reedereikaufmann und Schiffsmakler | |
| gearbeitet, bevor er in die alternative Literaturszene abbog. | |
| Die Mehrzahl der Szene-Exponenten kommt zwar aus dem universitären Umfeld, | |
| aber auch sie sind nicht unbedingt an einer pfeilgeraden Karriere | |
| interessiert, sondern wollen sich ausprobieren. Daniel Dubbe promoviert | |
| über Henri Michaux und wirft nach Feierabend Acid ein, um so zu seinem | |
| eigenen Stil zu kommen. Mit ganz beachtlichen Ergebnissen, wie er sich | |
| selbst auf die Schulter klopft. | |
| Es herrscht aber auch Bereitschaft bei einer wachsenden Leserschaft, sich | |
| mit solchen Experimenten auseinanderzusetzen. „Man brauchte damals nur ein | |
| paar zusammengeheftete Blätter hochzuhalten, dann wurden die einem aus der | |
| Hand gerissen“, erinnert sich Helmut Loeven, Herausgeber der Zeitschrift | |
| Der Metzger. | |
| Zauber des Anfangs | |
| Die etablierten Verlage bemerken das durchaus und machen eigene Reihen auf, | |
| Rowohlts „Das neue Buch“ zum Beispiel, um den Rahm abzuschöpfen. Aber sie | |
| gehören nun mal zum Schweinesystem. „Laßt euch nicht von den Rowohlts | |
| verschachern, Genossen! Organisiert euch selbst! Macht den bürgerlichen | |
| Linksgeschäftemachern ihr Geschäft kaputt! Der Polizeiknüppel, der uns auf | |
| den Kopf schlug, ließ es bei den Verlegern bimmeln: Schlagt da zurück!“, | |
| steht ausrufezeichenreich auf dem Cover des Szenehandbuchs „Die | |
| Alternativpresse“. | |
| Viele Autoren erinnern sich an den Zauber des Anfangs, die große | |
| Aufbruchstimmung. Man legt einfach los. Und tatsächlich entwickelt sich | |
| bald eine eigene Infrastruktur. Dreh- und Angelpunkt ist Josef „Bibi“ | |
| Wintjes mit seinem „Literarischen Informationszentrum“ in Bottrop. Wintjes | |
| sorgt für die interne Verständigung und vor allem für den Vertrieb. Und | |
| Benno Käsmayr, der sich neben seinem Studium in einer Druckerei verdingt, | |
| für die Herstellung. „Es sprach sich in der Szene schnell herum, daß ich | |
| Zugang zu Produktionsmitteln hatte und Sonderpreise machen konnte“, erzählt | |
| er. | |
| Für ambitioniertere Publikationen, die ihr Larvenstadium als | |
| hektografiertes Heftchen hinter sich haben, wird der Augsburger zum ersten | |
| Ansprechpartner und bleibt es jahrzehntelang. Als wir Mitte der 90er Jahre | |
| mit dicker Hose ein Magazin für Literatur und Kritik herausgaben, machte | |
| Benno immer noch Sonderpreise. [3][Mit seinem Maro Verlag hatte er zudem | |
| großen Anteil an der Popularisierung des Undergrounds]. Bei ihm erscheinen | |
| viele Klassiker der Alternativliteratur, etwa Tiny Strickers „Trip | |
| Generation“, Jörg Fausers „Tophane“ und nicht zuletzt „Gedichte die ei… | |
| schrieb bevor er im 8. Stockwerk aus dem Fenster sprang“ von Charles | |
| Bukowski. | |
| Interesse an autofiktionaler Literatur | |
| Dass die Literatur der Siebziger so gründlich vergessen ist, gehört zu den | |
| Unterlassungssünden einer elitären Literaturgeschichte, der es schon immer | |
| nicht ganz geheuer war, wenn auf einmal Krethi und Plethi, also auch | |
| vermeintliche Literaturfremde, Unstudierte, Handwerker und Proleten, | |
| anfingen Gedichte zu schreiben und womöglich mit Anspielungsmaterial | |
| jonglierten, das nicht dem bildungsbürgerlichen Traditionszusammenhang | |
| entstammte. | |
| Dass eine Literatur, die oft roh und unartifiziell scheint und die profanen | |
| Dinge des Lebens, auch die lange verdrängte Gefühlswelt in den Blick und | |
| beim prosaischen Wort nimmt, nicht zwangsläufig unpoetisch sein muss, dafür | |
| gibt es genügend Beispiele – von Christoph Derschau, Ralf Thenior, Yaak | |
| Karsunke, Barbara Maria Kloos und nicht zuletzt von Uli Becker, ohne den | |
| nicht nur meine Lesebiografie sehr viel fader verlaufen wäre. | |
| Der Literaturkritiker Michael Braun, der sich ohnehin nur als Zaungast der | |
| damaligen Szene begreift und ein wenig den Spielverderber gibt, will davon | |
| nichts wissen. Für ihn nehmen die literarischen Siebziger zu Recht wenig | |
| Platz ein in den Literaturgeschichten. Vom Underground lässt er noch | |
| weniger gelten. Vier Bücher reichen seiner Ansicht nach, um zu erfahren, | |
| was „wir über die siebziger Jahre wissen müssen“: Michael Rutschkys | |
| „Erfahrungshunger“, Enzensbergers „Die Furie des Verschwindens“, Theoba… | |
| „Blaue Flecken“ und Günter Steffens’ „Die Annäherung an das Glück“. | |
| Da ist das letzte Wort noch nicht gesprochen. Vielleicht führt ja das | |
| aktuelle Interesse an autofiktionaler Literatur – von Annie Ernaux, | |
| [4][Didier Eribon], Karl Ove Knausgård und J. J. Voskuil –, wenn schon | |
| nicht zu einer Renaissance der „Neuen Subjektivität“ und zur | |
| Wiederentdeckung ihrer Exponenten, dann wenigstens zu einer gerechteren | |
| Beurteilung dieses literatursoziologisch und ästhetisch bemerkenswerten | |
| Dezenniums. Bis dahin gilt Wolf Wondratscheks Empfehlung: „trink noch’n | |
| Whisky, / einen auf die siebziger Jahre, / dieses elende großzügige | |
| Jahrzehnt.“ | |
| 10 Aug 2020 | |
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| ## AUTOREN | |
| Frank Schäfer | |
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