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# taz.de -- Roman von Ben Lerner: Eine geheimnisvolle Schwelle
> Ben Lerners Roman „Die Topeka Schule“ ist eine Meditation über Sprache
> und den Niedergang der USA. Nicht nur Barack Obama empfiehlt ihn zum
> Lesen.
Bild: Adoleszenzplagen und Sozialdruck: US-Autor Ben Lerner
Dass Literatur aus Sprache besteht, kann man schon mal vergessen. Es gibt
diese Bücher, sie sind nicht so selten, in denen die Sprache sich hinter
dem Plot versteckt, gewissermaßen voll aufgeht in ihrer Aufgabe als
Vermittlerin der Story. Damit ist gar kein Werturteil verbunden, das muss
man auch beherrschen.
[1][Ben Lerners] neuer Roman „Die Topeka Schule“ liefert ein Gegenmodell.
Hier spielt sich eine ambitionierte Sprache nicht nur ständig in den
Vordergrund, hier wird sie auch zum Thema. Aus vier Perspektiven umkreist
Lerner ein intellektuelles Milieu an einer psychotherapeutischen Klinik im
Mittleren Westen der USA.
Wir befinden uns in der zweiten Hälfte der Neunziger. Lerners Alter Ego
Adam Gordon ist ein preisgekrönter Highschool-Debattierer, der an den
typischen maskulinen Adoleszenzplagen laboriert. Stangenfieber,
Selbstzweifel, sozialer Druck. Allerdings sind seine Eltern Therapeuten,
die ihr analytisches Besteck nicht einfach in der Praxis lassen.
Jonathan bringt „verlorene Jungs“ wieder zum Sprechen, Jane macht sich
zudem als feministische Autorin einen Namen, beide haben an frühkindlichen
Verletzungen und Schuldgefühlen zu tragen, denen sie natürlich ebenfalls
sezierend zu Leibe rücken. Sprache ist in einer solchen Familie stets mehr
als ein bloßes Mitteilungsmedium, sie ist Seelenspiegel, Analysewerkzeug,
Herrschaftsinstrument und noch viel mehr.
Bei Adam wird Sprechen überdies zu einer Form von Triebabfuhr oder
zumindest Sublimationsinstanz. Er überschreitet mitunter beim Debattieren
„eine geheimnisvolle Schwelle“.
„Es kam ihm weniger so vor, als hielte er eine Rede, sondern eher so, als
hielte die Rede ihn, als begännen der Rhythmus und die Intonation seines
Vortrags den Inhalt zu diktieren und er müsse seine Argumente nicht mehr so
sehr ordnen, als sie vielmehr durch sich hindurchfließen lassen. Plötzlich
war die physische Spannung, unter der er stand, ganz konzentrierte Energie,
eine Verwandlung, die die Veranstaltung leicht erotisch färbte.“
## Das Publikum mit Infos blenden
Lerner weiß, wovon er spricht, war nämlich selbst US-Meister im
Debattieren. Er beschreibt den Übergang ins „Reich der Poesie“, „seine R…
wurde von Tempo und Intensität überdehnt, bis er spürte, wie sich ihre
Sachbedeutung in reine Form auflöste“. Aber Reden sind nun mal keine
Poesie. Sie sollen etwas zur Sache beitragen. In dieser beschleunigten,
hypereloquenten Form ist das kaum mehr möglich.
Diese neue Redestrategie des „Schnellsen“ blendet das Publikum nur mehr mit
purem Informationsüberschuss. Das ist Lerners bitterer politischer
Kommentar: Wenn sich Mitte der Neunziger eine junge politische Elite mehr
und mehr eingeschossen hat auf diese amoralische Dampfrhetorik, die zwar
mitreißt, aber letztlich nicht mehr ist als grandioses „Gefasel“, dann
liegen darin vielleicht auch die Ursachen für den Niedergang des
politischen Diskurses in den USA.
Zugleich verbirgt sich hier aber auch eine ästhetische Grundsatzerklärung.
Ben Lerner paraphrasiert den „furor poeticus“, jenen quasimystischen
Zustand, in dem ein Text sich wie von selbst formt und der Schreibende nur
als eine Art Empfänger involviert zu sein scheint.
## Im Rausch wie Kafka und Rilke
Dieser rauschhafte, entgrenzende Produktionsmodus, den auch Kafka und Rilke
suchten, ist Lerners Ideal. Und das merkt man diesem Roman auch an. Lerner
strukturiert die miteinander verflochtenen, sich aufeinander beziehenden
Geschichten seiner Protagonisten wie in einem Rausch. Mit
Motivwiederholungen, Reprisen und Refrains stellt er immer wieder
Kohärenzen und Überschneidungen her zwischen den Binnenerzählungen, und
übertreibt es mit vollem Kalkül.
Je weiter die einzelnen Storys sich entwickeln, desto rätselhafter wird das
semantische Geflecht, das Lerner hier knüpft. Und dabei entsteht dann
gelegentlich tatsächlich Poesie, aber eben manchmal auch bloß – „Gefasel�…
Lerner kennt die Gefahr, aber er geht das Wagnis der „reinen Form“ trotzdem
ein. Das ist das eigentlich Spannende in „Die Topeka Schule“.
## Zuflucht im Waffenladen
Darren, ein Kindergartenfreund Adams, dessen geistige Entwicklung mit etwa
acht Jahren stehengeblieben ist, bildet die große Antithese in diesem
Roman. Er wird von Adams Freundeskreis erbarmungslos gedemütigt und findet
[2][Zuflucht im Waffenladen] eines White-Trash-Veteranen, der ihm seinen
außerordentlichen Frauen- und Welthass einimpft.
Es ist schon früh klar, dass Darren irgendwann auf die ständigen
Zurückweisungen und Erniedrigungen reagieren wird und dass ihm als Waffen
keine Worte zur Verfügung stehen. Es ist schön zu sehen, wie viel Empathie
dieser rhetorisch beschlagene Autor aufbringt für einen Protagonisten, der
gar keine adäquate Sprache hat, und fast schon paradox, wie viel
imaginative Energie es braucht, um dessen alogische Traumwelt
auszuleuchten.
16 Sep 2020
## LINKS
[1] /Selfie-Literatur-von-Ben-Lerner/!5272047
[2] /US-Schuelerprotest-gegen-die-Waffenlobby/!5490735
## AUTOREN
Frank Schäfer
## TAGS
Literatur
USA
Waffenlobby
deutsche Literatur
Underground
Charles Bukowski
Buch
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