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# taz.de -- Klassenfragen und Macht: Wir Kleinbürger
> Die Aufhaltsamkeit des Kleinbürgertums oder das Ende eines Versprechens:
> Wie eine Nicht-Klasse sich auflöst und ihre Mitglieder abgewertet werden.
Bild: Mit einem Bein in der Welt der Ausbeuter und mit dem anderen in der Welt …
„Dass Sie, der Sie dies lesen, dies lesen, ist fast schon ein Beweis: ein
Beweis dafür, dass Sie dazugehören.“ Das ist ein Super-Einleitungssatz;
[1][er stammt von Hans Magnus Enzensberger] und steht am Beginn seines
Essays „Von der Unaufhaltsamkeit des Kleinbürgertums“, der im Kursbuch Nr.
45 aus dem Jahr 1976 veröffentlicht wurde. Das Kleinbürgertum, so wird es,
etwas verkürzt wiedergegeben, im Kursbuch definiert als die Menschen, die
auf der einen Seite weder im Besitz von Produktionsmitteln, Ländereien
und/oder „arbeitendem“ Kapital sind, noch an den Schlüsselpositionen der
politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Macht stehen, und die
andererseits mehr verdienen, als sie zum bloßen Überleben und zur
Wiederherstellung ihrer Arbeitskraft brauchen und dieses Surplus sozusagen
in sich selbst oder in die Familie investieren.
Kleinbürger sind Menschen, die mit einem Bein in der Welt der Ausbeuter und
mit dem anderen in der Welt der Ausgebeuteten stehen, die dem
Grundwiderspruch zwischen Kapital und Arbeit persönlich entkommen und ihn
strukturell verschärfen. Die Kleinbürger*innen, das sind die Menschen in
einer Klasse, die nicht eine ist, sondern auf ewig zwischendrin, auf ewig
gespalten zwischen der Gier nach Aufstieg und der Angst vor Abstieg, auf
ewig gespalten auch in einen progressistisch-liberalen-demokratischen und
einen konservativ-reaktionären und der Faschisierung zuneigenden Teil.
[2][Kolumnen wie diese werden in aller Regel von Kleinbürger*innen des
progressistischen Flügels geschrieben und gelesen.] Womit wir wieder bei
Hans Magnus Enzensbergers Super-Einleitungssatz und auch bei seinem Diktum
wären: Kleinbürger wollen alles Mögliche, nur nicht Kleinbürger genannt
werden.
Dafür, dass das Kleinbürgertum weder wirklichen Reichtum noch wirkliche
Macht erringen kann, wurde es mit etwas belohnt, das im Kursbuch damals die
„kulturelle Hegemonie“ genannt wurde. Kleinbürger bestimmten Geschmack und
Moden, Diskurse und Debatten, Pop und Philosophie, Design und Desaster.
Kleinbürger sollten „die Mitte“ sein, auf die alles Regieren und alles
Wirtschaften, alle Kunst und alle Gesellschaft bezogen seien. Damit ist es,
wie es scheint, seit geraumer Zeit vorbei.
## Verhältnisse auf den Kopf gestellt
In der Zeit der sozialen Marktwirtschaft (die uns nicht geschenkt, die
immer auch erkämpft wurde) war das große Versprechen, dass die Mehrheit
aller arbeitenden Menschen und ihre Familien ins Kleinbürgertum aufsteigen
könnten. Die Kinder sollten es einmal besser haben, und von Wohlstand und
Fortschritt sollten alle was haben. Das große Versprechen der
Verkleinbürgerlichung bestand nicht nur in einem größeren Stück vom Kuchen,
sondern auch in einer eigentümlichen Subjekt-Freiheit in dieser Klasse, die
nicht eine ist.
Proletarische Arbeit, das ist Arbeit, die die Maschine, das Fließband, die
Vorarbeiter bestimmen; kleinbürgerliche Arbeit dagegen ist Subjekt-Arbeit,
noch in der subalternsten Form geht es darum, Entscheidungen zu treffen und
soziale Pression zu vermitteln, was nicht selten zum unsympathischen
Phänomen des Radfahrer-Syndroms führte (nach oben buckeln, nach unten
treten).
Der Neoliberalismus, das Zusammenspiel von Privatisierung, Globalisierung
und Digitalisierung auf „deregulierten“ Märkten, hat die Verhältnisse auf
den Kopf gestellt. Auf das Versprechen der progressiven
Verkleinbürgerlichung ist die Drohung der Abstiege und Ausschlüsse
getreten. Dabei findet der Abstieg des Kleinbürgertums auf drei Ebenen
statt.
Die Prekarisierung. Das heißt arbeiten in unsicheren und oft rechtlosen
Verhältnissen mit vagen individuellen Chancen, es irgendwie doch noch zum
„Gewinner“ zu bringen (jenseits der Klasse). Das Absinken ins neue
„Dienstleistungsproletariat“ lauert allerorten.
Die Automatisierung. Ein Jahrhundert lang kämpfte die Arbeiterklasse mit
den Auswirkungen der Automation, die Maschinen nahmen Arbeit weg und
entwerteten sie, und sie degradierten die menschliche Produktivität. Die
Maschine sollte die körperliche Arbeit ersetzen, damit die Menschen sich
kreativeren Bereichen widmen könnten, so die idealistische Version, die
ihre Rechnung ohne das Kapital gemacht hat. Im neuen Jahrhundert erlebt das
Kleinbürgertum, was vorher die Arbeiterklasse erlebte und was sie
schließlich auflöste: Immer weitere Bereiche ihrer Arbeit werden von
Maschinen „rationalisiert“; Computer übernehmen „geistige“ Aufgaben, d…
vorher Kleinbürger innehatten, von Pädagogik über Verwaltung bis hin zur
Forschung. Die Frage: Was ist ein Kleinbürger?, lässt sich derzeit vor
allem mit dem Bild eines Menschen an „seinem“ Computer beantworten,
entfremdeter noch als die Arbeit des Proletariers an „seiner“ Maschine.
## Bizarrer Hass auf Eliten
Der Verlust der kulturellen Hegemonie. Ein Blick in die Fernsehprogramme
und in die Konsumblätter am Kiosk offenbart, dass es die gemeinsamen
Bezugspunkte von Diskursen und Design als Mainstream nicht mehr gibt. Der
bizarre Hass auf die „Eliten“ stammt nicht von unten, sondern von einem in
jeder Hinsicht herunterkommenden Kleinbürgertum. Es gibt keinen Mainstream,
keine kulturellen Schnittpunkte zwischen dem progressistischen und dem
konservativen Teil mehr. Sie können sich, wie ein Blick in die eigene
Familie oder die nebenan zeigt, nicht einmal mehr richtig streiten.
Der Verlust der kulturellen Hegemonie wirkt tiefer, als man meinen möchte.
Denn der affektive Teil davon ist das scheinbar unerschütterliche Gefühl
der moralischen Überlegenheit. Ich bin nicht reich, ich bin nicht mächtig,
aber dafür habe ich immer recht. So sprechen Kleinbürger, rechts wie links.
Und sie sprechen es immer lauter, je mehr ihnen die Abwertung ihrer
Nicht-Klasse bewusst wird. Die viel beschworene Spaltung der Gesellschaft
ist vor allem eine Spaltung des Kleinbürgertums. Vielleicht wird es Zeit,
dass „Wir Kleinbürger“ (so hieß das [3][Kursbuch] von 1976) doch noch so
etwas wie Klassenbewusstsein entwickeln.
20 Jan 2021
## LINKS
[1] /Hans-Magnus-Enzensberger-wird-90/!5639882
[2] /Sammelband-ueber-Underground-Literatur/!5701728
[3] /Kursbuch-Herausgeber-im-Portraet/!5229872
## AUTOREN
Georg Seeßlen
## TAGS
Schlagloch
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Intellektuelle
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