# taz.de -- Kultdichter Rolf Dieter Brinkmann: Der Popliterat als deutsches Gen… | |
> „Westwärts 1 & 2“ von Rolf Dieter Brinkmann erscheint neu. Flankiert… | |
> das Werk von der ersten Biografie über den umsrittenen wie herausragenden | |
> Lyriker. | |
Bild: Komplizierte Beziehung: Rolf Dieter Brinkmann und seine Frau Maleen | |
Als Rolf Dieter Brinkmann seinen legendären Gedichtband „Westwärts 1 & 2“ | |
zusammenstellte, war er total abgebrannt. Die Zahlungsbefehle häuften sich | |
im Winter 1974/75, ihm drohte Beugehaft. Die letzten Jahre hatte der | |
34-Jährige von BAföG gelebt. Jetzt stand der Gerichtsvollzieher vor der Tür | |
und zog für das Studentenwerk 990 DM ein. Seine Frau Maleen wurde dabei | |
erwischt, wie sie ein Paar Handschuhe für 9,80 Mark klaute. Es kam zu einem | |
Prozess, sie fürchtete, als Vorbestrafte später keine Anstellung mehr im | |
Staatsdienst erhalten zu können. | |
Ein kleiner Lichtblick war da die Einladung zu einem Poesiefestival nach | |
England. Zusammen mit seinem Kollegen [1][Jürgen Theobaldy] streifte | |
Brinkmann durch London. Ohne auf den dortigen Linksverkehr zu achten, | |
wollte er die Straße überqueren und wurde sofort von einem Auto erfasst. Es | |
ist dieser frühe, plötzliche Tod, kurz vor dem einsetzenden Ruhm, der | |
Brinkmann zu einem Mythos machte. „Westwärts 1 & 2“ wurde zu einem | |
poetischen Monument. Brinkmann stand damit unwillkürlich in einer Reihe mit | |
Büchner oder Kleist. Und in den 1970er Jahren kam noch etwas anderes dazu. | |
Die Rockmusik akzentuierte den frühen Künstlertod ganz neu, und Brinkmann | |
hatte sofort darauf reagiert: „Jimi Hendrix an der / eigenen Kotze in einem | |
/ Hotel in London // erstickt, Brian Jones / schwimmt im Planschbecken / | |
seines Landsitzes kühl // und ohne Gefühl.“ | |
Michael Töteberg gibt jetzt, 50 Jahre danach, „Westwärts 1 & 2“ neu heraus | |
und zeichnet die chaotische Entstehungsgeschichte nach, der Band erschien | |
in einer erheblich reduzierten Form. Brinkmann wollte an die Schönheit | |
einfacher Popsongs anknüpfen, aber er versah dies mit einer ästhetischen | |
Eigendynamik, mit emblematischen Versen wie „Wer hat gesagt, daß sowas | |
Leben / ist? Ich gehe in ein / anderes Blau.“ | |
## Briefe an Maleen | |
Töteberg hat festgestellt, dass es im Nachlass etliche Gedichte gibt, die | |
es auch nicht in die erste erweiterte Ausgabe von 2005 geschafft hatten. In | |
einem Anhang fügt er 27 neue Texte hinzu, aber es ist erkennbar, dass noch | |
viel Arbeit auf zukünftige Philologen wartet. Die [2][Brinkmann-Rezeption] | |
genauso stark beeinflussen wird das zweite Buch, das zum Jubiläum – 85. | |
Geburtstag am 16. April, 50. Todestag am 23. April – erscheint: Töteberg | |
legt zusammen mit Alexandra Vasa die erste Biografie des Autors vor. Daran | |
hatte sich bisher niemand gewagt. | |
Brinkmanns junge Witwe Maleen hütete den Nachlass sehr streng, angesichts | |
des exzessiven Charakters ihres Mannes mit gutem Grund. Es gibt in der | |
Biografie jetzt einige, wenn auch eher periphere Zitate aus Briefen | |
Brinkmanns an Maleen und daneben eine weitere neue Quelle: Briefe | |
Brinkmanns an seinen Freund Henning John von Freyend von der Kölner | |
Künstlergruppe „Exit“, zu der Brinkmann Ende 1968 stieß. Hier zeigt sich | |
viel von dem Getriebensein und Kunstverständnis des Dichters. | |
In der Biografie wird von Anfang an deutlich, wie sehr Brinkmanns Leben auf | |
die Literatur hinauslief und wie stark er, durchaus bewusst, an die | |
deutsche Tradition des Dichtergenies anknüpfte. In der Schule war er | |
schlecht. Doch bereits als 17-Jähriger schrieb er an den Verleger Peter | |
Suhrkamp und bezeichnete sich als „Sprecher seiner Generation“, genauso wie | |
der junge, schwerkranke Kriegsheimkehrer Wolfgang Borchert mit seinem Drama | |
„Draußen vor der Tür“, wo der Protagonist den mitleidlosen Mitmenschen se… | |
Schicksal entgegenschleudert. Als eine Schülergruppe 1957 in Vechta das | |
Stück aufführte, spielte Brinkmann wie zwangsläufig die Hauptrolle. | |
Zu seiner Heimat, dem südoldenburgischen Schweinemastgebiet, pflegte | |
Brinkmann eine Hassliebe. Das gilt auch für das Verhältnis zu seinem | |
kleinbürgerlichen Vater. Nach langem Hin und Her fand dieser für den Sohn | |
eine Ausbildungsstelle in einer katholischen Buchhandlung in Essen. Der | |
junge Brinkmann versuchte unermüdlich, seine Texte unterzubringen. Er zog | |
nach Köln und überzeugte einen jungen Buchhändlerkollegen davon, einen | |
Gedichtband von ihm zu drucken. „Ihr nennt es Sprache“ erschien im Oktober | |
1962 im Verlag Klaus Willbrand, Leverkusen. Etwas verdutzt stellt man fest, | |
dass die Biografen auf die fulminante späte Karriere dieses Klaus Willbrand | |
wohl nicht mehr eingehen konnten: Willbrand, der vor Kurzem im Alter von 83 | |
Jahren starb, ist genau jener Antiquar und „Bookfluencer“, der auf Tiktok | |
und Youtube mit seinen Buch-Videos Hunderttausende von Followern erreichte. | |
Eine vergleichbare Blitzkarriere absolvierte Brinkmann in den sechziger | |
Jahren selbst. Sein Freund Ralf-Rainer Rygulla war für drei Jahre nach | |
London gegangen, lernte dort die zeitgenössische amerikanische Popliteratur | |
kennen und infizierte Brinkmann damit. Hier fand der Dichter seinen Ton, | |
etwas Unbändiges und Radikales, vor allem auch sexuell Entfesseltes, das | |
sich mit seinem zutiefst deutschen Herkommen aus Vechta mit Pinkel und | |
Schweinenacken zu einer explosiven Mischung verband. Die umtriebige Zeit | |
Ende der sechziger Jahre wird in der Darstellung dieser Biografie äußerst | |
lebendig: etwa die kurzlebigen Aktionen der Kölner Künstlergruppe „Exit“ | |
mit den 68er-Studenten, mit deren politischen Vorstellungen Brinkmann aber | |
nichts zu tun haben wollte, oder die gemeinsamen Projekte mit Peter Handke | |
im Gestus der Revolte. | |
## Der Maschinengewehr-Ausfall | |
Und auch die berühmte Szene in der Westberliner Akademie der Künste vom | |
November 1968 wird detailliert geschildert. Brinkmann sagte dort nach einer | |
Bemerkung des altehrwürdigen Kritikers Rudolf Hartung: „Sie wollen mich in | |
dieser Situation zu einer Differenzierung nötigen. Über Differenzierung ist | |
alles erstarrt worden, über Differenzierung kommt man zur Versöhnung. Es | |
geht nicht um Differenzierung, es geht vielleicht gar nicht um Literatur. | |
Ich müsste ein Maschinengewehr haben und Sie über den Haufen schießen.“ | |
Dieser Moment stand sofort sinnbildlich für Brinkmann, für sein | |
[3][wütendes Um-sich-Schlagen] und für seine Ausfälle. Seine sanfte Seite, | |
die er literarisch gelegentlich zelebriert, blitzt auch auf, wird aber sehr | |
sachlich eingeordnet. In der komplizierten Beziehung zu Maleen spielte | |
Robert, das geistig behinderte Kind der beiden, eine große Rolle. Die | |
Biografen deuten an, dass am Ende eine Trennung im Raum stand und Brinkmann | |
wohl schon eine neue Frau ins Auge gefasst hatte. | |
Während des Stipendiums in der Villa Massimo in Rom entstand das fulminante | |
Nachlass-Werk „Rom, Blicke“. Töteberg und Vasa relativieren einige | |
oberflächliche Lesarten und weisen auf Brinkmanns Stilisierungen hin. Im | |
„Notizbuch 1972, 1973 Rom Worlds End“, das zuerst als Hausdruck der Villa | |
Massimo erschien, handhabte er das durch William S. Burroughs inspirierte | |
Cut-up-Verfahren so virtuos wie sonst nirgends. Und obwohl er seine | |
Ästhetik immer mehr zu erweitern suchte und mit visuellen Reizen und | |
Klängen experimentierte, lief der Rom-Aufenthalt auf etwas ganz anderes | |
hinaus. In den letzten Wochen begann Brinkmann wieder Gedichte zu | |
schreiben, es sind die ersten für „Westwärts 1 & 2“. Dass er sich von der | |
US-amerikanischen Pop-Pose entfernen wollte, die für ihn längst langweilig | |
geworden war, zeigt sich in einigen Details. So bezeichnete er Bernd | |
Brummbär, den Herausgeber der deutschen Ausgabe von Robert Crumbs Klassiker | |
„Fritz the Cat“, verächtlich als „Comic-Muff-Typen aus Frankfurt“. Der | |
US-Underground war ihn kein Bezugspunkt mehr. | |
Die Biografen sind mit Wertungen eher zurückhaltend, aber es ist eindeutig, | |
dass sie Brinkmanns Kultstatus dekonstruieren und den schwierigen, | |
zerrissenen Charakter des Protagonisten erhellen. Umso überrumpelnder | |
erscheint das immer noch Suggestive und Geheimnisvolle von Brinkmanns | |
Texten. | |
7 Apr 2025 | |
## LINKS | |
[1] /Lyrik-von-Juergen-Theobaldy/!6033446 | |
[2] /Hoerspiel-Klassiker-im-Brinkmannjahr/!6072510 | |
[3] /Neues-Buch-von-Wolfram-Lotz/!5866919 | |
## AUTOREN | |
Helmut Böttiger | |
## TAGS | |
Bücher | |
Lyrik | |
Pop-Literatur | |
deutsche Literatur | |
Biografie | |
wochentaz | |
Nachkriegsliteratur | |
Lyrik | |
Underground | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Abschiedsvorlesung Joseph Vogl: Das Flirren der Literatur in Vorkriegszeiten | |
Joseph Vogl hatte sich am Anfang seiner akademischen Laufbahn dem „Zaudern“ | |
gewidmet. Nun rundet sich das mit Überlegungen zur Schwerelosigkeit. | |
Hörspiel-Klassiker im Brinkmannjahr: „Köln ist die schmierigste Stadt, die … | |
Rolf Dieter Brinkmanns Hörspiel „Die Wörter sind böse“ ist ein Klassiker | |
der Radikalität. Und ein Monument des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. | |
Lyrik von Jürgen Theobaldy: Segnen ohne Weihrauchfass | |
Die direkten, popkulturell anspielungsreichen Gedichte von Jürgen Theobaldy | |
wirkten in den Siebzigern befreiend. Ein neuer Sammelband erinnert an ihn. | |
Sammelband über Underground-Literatur: Acid nach Feierabend | |
Die Anthologie „Die untergründigen Jahre“ erzählt über Literatur abseits | |
vom Mainstream in Westdeutschland seit den 1970ern. |