| # taz.de -- Lyrik von Jürgen Theobaldy: Segnen ohne Weihrauchfass | |
| > Die direkten, popkulturell anspielungsreichen Gedichte von Jürgen | |
| > Theobaldy wirkten in den Siebzigern befreiend. Ein neuer Sammelband | |
| > erinnert an ihn. | |
| Bild: Der Dichter Jürgen Theobaldy, hier auf einem Foto von 1998 | |
| Einer seiner frühen poetologischen Essays aus den Siebzigern trägt den | |
| vielsagenden Titel „Das Gedicht im Handgemenge“. Jürgen Theobaldy geht mit | |
| den studentischen Revoluzzern auf die Straße und lässt sich von | |
| Wasserwerfern nass machen, doch er will sich nicht vor jedem linken Kader | |
| rechtfertigen müssen, warum er trotzdem noch Poesie schreibt. Seine Lyrik | |
| ist politisch, aber eben auch privat. Bevor es den Spontispruch gab, hat | |
| Theobaldy bereits in seinen Texten illuminiert, wie das eine mit dem | |
| anderen zusammenhängt. | |
| Speziell für dich | |
| Weil du gern Pflaumenmus magst | |
| hab ich heute Pflaumenmus gekauft | |
| Ich nahm mir ein Herz | |
| trat hinein in den Delikatessenladen | |
| und kaufte „Pflaumenmus – Pflückfrisch!“ | |
| O komm vorbei! Du kannst | |
| die Schalen noch schmecken die Kerne | |
| selbst Stängel und kleinere Zweige! | |
| Das offene, erweiterte Realismuskonzept der [1][US-Beat-Poeten] und ihrer | |
| Nachfolger Frank O’Hara oder Ron Padgett liefern die Vorlage. Alles kann | |
| Platz finden in einem Gedicht, sogar ein Glas Marmelade, wenn man es nur | |
| genau genug beobachtet und beschreibt. Die Anspielung auf das berühmte | |
| Pflaumengedicht („This Is Just to Say“) vom Vater der Beats, William Carlos | |
| Williams, ist offensichtlich und zeigt darüber hinaus mit feiner Ironie, | |
| wie sich Theobaldy literarische Traditionspflege vorstellt: Er macht sie zu | |
| Mus. | |
| Zeitgenössische Dichtung müsse den Abstand zwischen Erlebnis und Form | |
| verringern, also versuchen, „das Gedicht an seinen Gegenstand | |
| heranzuschieben, es ihm auf den Körper zu schreiben“. Als Theobaldy diesen | |
| Appell formuliert, im Nachwort von „Und ich bewege mich doch“, einer von | |
| ihm herausgegebenen Anthologie von Gedichten „vor und nach 1968“, hatte er | |
| das bereits in zwei Lyrikbänden erprobt. | |
| Der zweite, „Blaue Flecken“, noch so ein hübsch mehrdeutiger Titel, | |
| erscheint in der angesagten Rowohlt-Reihe „Das neue Buch“ und macht ihn – | |
| verdientermaßen – neben Rolf Dieter Brinkmann, [2][Wolf Wondratschek] und | |
| Nicolas Born zu einem der Frontleute der lyrischen Avantgarde, die schon | |
| bald als „Neue Subjektivität“ verschlagwortet wird. | |
| Blues aus Bayern | |
| Mein Großvater war ein rollender Stein | |
| er rollte die Alpen herab | |
| zog eine breite Spur durch München | |
| pflanzte keinen Baum las kein gutes Buch | |
| tötete seinen ärgsten Feind nicht | |
| machte sieben Kinder und verschwand | |
| hinter dem Bodensee in der Schweiz | |
| in einem kalten ausgeräumten Zimmer | |
| mit nichts als einer Menge Bierflaschen | |
| auf dem Boden neben der Matratze | |
| Man kann mit dem Blick von heute vermutlich nicht mehr richtig ermessen, | |
| wie befreiend in den frühen Siebzigern solche Töne gewesen sein müssen. | |
| Diese Gedichte laufen nicht leer im formalen Experiment und kommen ganz gut | |
| ohne akademische Abschlüsse aus. Vor allem jedoch sind viele so eingängig, | |
| dass sie selbst zu Songs werden können. „Blues aus Bayern“ wird von Achim | |
| Reichel vertont auf seinem Album „Ungeschminkt“. | |
| Die Einfachheit ist Kalkül. „Ich möchte gern ein kurzes Gedicht schreiben / | |
| eins mit vier fünf Zeilen / nicht länger / ein ganz einfaches / eins das | |
| alles sagt über uns beide / und doch nichts verrät / von dir und mir“. Man | |
| darf aber auch den Anspielungsreichtum dieser Lyrik nicht unterschätzen. Es | |
| schwingen nur eben noch andere als die üblichen literarhistorischen | |
| Resonanzböden mit – popkulturelle natürlich. | |
| ## Klaglos in die zweite Reihe | |
| Theobaldy kommt aus der Malocherstadt Mannheim. Er hat dort die | |
| hektografierte Underground-Literaturzeitschrift Benzin herausgegeben, und | |
| als die Gegenkultur für ein paar Jahre lang Mainstream-tauglich wird, zieht | |
| er nach Westberlin, wo die anderen wilden Kerle wohnen. An der Seite von | |
| [3][F. C. Delius,] Hermann Peter Piwitt, Hans Christoph Buch und seinem | |
| Freund Nicolas Born mischt er eine Weile ziemlich gut mit im | |
| Literaturbetrieb. | |
| So ganz geheuer ist dem ehemaligen Plebejer dabei allerdings nie. Als die | |
| „Alltagslyrik“ im Laufe der achtziger Jahre abgelöst wird von postmodernen | |
| Schreibweisen, die wieder deutlicher das Artifizielle in den Mittelpunkt | |
| rücken, stellt er sich denn auch klaglos zurück ins zweite Glied. | |
| Dabei hatte sich Theobaldys Lyrik in der Zwischenzeit ebenfalls | |
| weiterentwickelt. Den freien prosanahen Zeilen seiner Anfänge folgen | |
| metrisch stärker gebundene und auch sprachlich amplifiziertere Verse, die | |
| allerdings immer noch erstaunlich aufnahmefähig sind für ganz | |
| unterschiedliche Erfahrungen. Es sind Reise-, Natur- und Widmungsgedichte | |
| an Maler, Schriftsteller oder an den Ausnahmesportler Jesse Owens darunter, | |
| aber auch biografische Selbsterkundungen wie die | |
| halbironisch-melancholische Skizze über seinen Teilzeitjob als | |
| Protokollant im Schweizer Parlament. | |
| Tatsächlich geht sein allmählicher Abschied vom Literaturbetrieb mit einem | |
| räumlichen Rückzug nach Bern einher. Von nun an publiziert er wieder | |
| vornehmlich in Kleinverlagen, neben Prosa auch regelmäßig Gedichtbände. | |
| ## Erweiterung des formalen Terrains | |
| Man kann seine literarische Entwicklung sehr schön verfolgen in dem | |
| chronologisch geordneten, vom Dichter selbst ausgewählten Sammelband „Nun | |
| wird es hell und du gehst raus“, der in diesem Jahr zu Jürgen Theobaldys | |
| 80. Geburtstag erschienen ist. Wobei seine stilistischen Veränderungen eher | |
| als Grenzverschiebungen zu verstehen sind, eine Erweiterung seines formalen | |
| Terrains, die jederzeit eine Rückkehr auf ältere Positionen zulässt. So ist | |
| es schön zu sehen, wie etwa das entspannte, leicht melancholische | |
| Parlando-Gedicht seiner Anfänge um die Jahrtausendwende plötzlich wieder | |
| Konjunktur hat. | |
| Leichte Kavallerie | |
| Hinter seinem Stirnbein toben | |
| die Schlachten, denen es entkam. | |
| Mit einer Handvoll Gräsern | |
| lockst du es weg vom Gras. | |
| Legst du ihm die Hand auf | |
| zwischen seinen Augen, | |
| fühlst du die Schädelstätte, | |
| auf die es blickt. | |
| Wenn man bei Theobaldy nach einem Generalbass seines lyrischen Schaffens | |
| sucht, etwas, das sein Werk zusammenhält, dann ist es vielleicht sein | |
| Wunsch, dem profanen, ganz und gar säkularen Vorkommnis mit einfachsten | |
| Worten das Epiphanische zu entlocken. Diese Seinsversenkung, diese beinahe | |
| buddhistische Hingabe an den Augenblick fällt ihm nicht erst in den späten | |
| Poemen zu, die dann auch häufiger Reisen nach Japan und China gewidmet sind | |
| und mit fernöstlichen Kurzgedichtformen wie Haiku oder Tanka spielen. | |
| Theobaldy sucht von Anfang an nach dem besonderen Moment, dem Kairos in der | |
| griechischen Philosophie, der günstigen Gelegenheit also, in der das | |
| Erlebnis plötzlich eine beinahe sakrale Aura bekommt. Allein durch die | |
| Form. Erst indem er diesen besonderen Augenblick sprachlich zum Leuchten | |
| bringt, verleiht er ihm Gewicht und Dauer. | |
| „Die Kunst zu segnen ohne Weihrauchfass“, nennt er das in einem späten | |
| Poem. Und das heißt ja im Grunde wirklich nichts anderes, als das Gedicht | |
| dem Erlebnis „auf den Körper zu schreiben“, wie er es ganz am Anfang seiner | |
| Karriere in den sechziger Jahren postuliert. Wie oft ihm das gelungen ist, | |
| und wie suggestiv auch, davon zeugen Theobaldys „Ausgewählte Gedichte“ auf | |
| beeindruckende Weise. | |
| 4 Sep 2024 | |
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| ## AUTOREN | |
| Frank Schäfer | |
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