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# taz.de -- Ingeborg Bachmanns Tagebücher: Diese dubiose Freiheit
> „Senza casa“, ein Band mit bisher unbekannten Aufzeichnungen Ingeborg
> Bachmanns, bringt ihr Streben nach Unabhängigkeit auf den Punkt.
Bild: Schriftstellerin Ingeborg Bachmann
Den vielen Gesichtern der Ingeborg Bachmann sind in den letzten Jahren
etliche neue hinzugefügt worden, und mehr denn je wird ihre Biografie
[1][von Mystifizierungen] und vermeintlichen Entmystifizierungen
überwuchert. Auch in ihren literarischen Texten tarnte sie sich virtuos und
legte widersprüchliche Fährten aus, die sich sofort ins Fiktive
verlagerten. [2][Konkrete, unverstellte autobiografische Zeugnisse gibt es
von ihr kaum,] ihre höchst unterschiedlich intonierten Briefwechsel gehören
keineswegs dazu.
Bachmanns jüngst veröffentlichte Korrespondenz mit Max Frisch war eher dazu
geeignet, das Bild ihrer Person endgültig zu verwirren. Deshalb ist die
Bedeutung der jetzt in der großen Salzburger Werkausgabe vorgelegten
tagebuchartigen Notate nicht zu unterschätzen. In ihren wenigen privaten
Aufzeichnungen zeigt sich vor allem eine existenzielle Unsicherheit. Es
geht um die Überforderung, dem selbstgewählten Leben einer berufstätigen
Frau, die sich nicht sofort in den sicheren Hafen einer Ehe begeben will,
in den fünfziger und sechziger Jahren gerecht zu werden. Bachmanns
Vorstellungen waren gesellschaftlich nicht vorgesehen.
Im Jahr 1951, im Alter von 25 Jahren schreibt sie, während sie in Wien als
Radioredakteurin ein bohèmehaftes Leben führt, als Model mit Lederjacken
posiert, Begehren auslöst und entsprechende Affären hat: „Es wird immer
unmöglicher, schlafen zu gehen. Bohrende Nervosität, und Müdigkeit von
Jahren dahinter. Die Versuche, das ‚Richtige‘ zu tun, Kompromisse,
Unbedingtheiten, Skrupel. Der Versuch, sich auszudrücken, zu spüren, die
Schatten zu teilen. Ein sehr dunkles Dickicht, an dem jedes Messer
zerbricht.“
Und auch als bald danach ihre große Berühmtheit einsetzt, ändert sich der
Ton ihrer intimen Notate nicht, im Gegenteil: Abgesehen von wenigen
Ausnahmen wird er immer verzweifelter. Man hat beim Lesen dieser
fragmentarischen, oft wie nebenbei hingekritzelten Blätter den Eindruck,
dass Ingeborg Bachmann die verschiedenen Rollen, die sie in der
Öffentlichkeit einnahm, selbst nicht mehr beherrschen konnte.
Sie galt bereits früh als kapriziöse, lyrische Diva, und von Anfang an
stritt man sich darüber, ob das eher Zuschreibungen von außen waren oder
doch auch Selbstinszenierungen, in denen die Dichterin alle möglichen
Masken zwischen süßem Mädel und Vamp aufsetzte. In einer charakteristischen
Notiz schwankt sie zwischen den Sätzen „Ich bin es nicht“ und „Ich bin�…
und einmal erkennt sie beim Nachspüren ihrer Verhaltensweisen im Umgang mit
anderen: „Es handelt sich um Vorstellungen, die ich von mir habe oder haben
möchte, die ins Spiel kommen.“
## Ein Leben in Verzettelung
Es ist bezeichnend, dass sie derlei tagebuchähnliche Blätter nur äußerst
sporadisch geschrieben hat, mitunter im Abstand von mehreren Jahren. Ihre
Energie war in erster Linie darauf gerichtet, das Schreiben in eine andere
Richtung zu lenken, in die Eigendynamik von Figuren, die sich von
unmittelbaren Alltagserfahrungen entfernen.
Die Nachlassverwalter fanden diese seltenen, erkennbar nicht als
literarische Versuche intendierten Notizen verstreut in mehreren Ordnern
und Kladden, oft in Form einzelner Zettel, die zwischen Werk- und
Briefentwürfen, Einkaufslisten oder Zahlenkolonnen lagen. „Verzettelung“:
dieses Wort verwenden die Herausgeberinnen des Bandes deshalb auch
symbolisch, die Art von Bachmanns persönlichen Aufzeichnungen entspricht
genau der Art und Weise, wie sie ihre Lebensführung insgesamt empfand.
Eine große Ausnahme, die Entdeckung dieser Edition, ist das von den
Herausgeberinnen so benannte „Neapolitanische Tagebuch“, ein Notizheft aus
der Zeit zwischen Februar und September 1956, als Bachmann zusammen mit
[3][Hans Werner Henze] in dessen Wohnung in Neapel lebte. Der Komponist
hatte sie bereits 1953 nach Italien gelockt, es war ihr Sprungbrett in ein
Leben als freie Schriftstellerin.Die ersten, künstlerisch rauschhaften
gemeinsamen Wochen mit dem homosexuellen Henze damals auf Ischia schufen
eine komplexe Bindung, die auch sinnliche Implikationen hatte.
Bachmann führte fortan eine radikal ästhetische Existenz, zog oft um, lebte
meistens in Rom, aber sie hatte permanent finanzielle Nöte. Die
Notwendigkeit, sich durch aufwändige Aufträge beim Rundfunk durchschlagen
zu müssen, führte wiederholt zu persönlichen Krisen. Das halbe Jahr mit
Henze im Jahr 1956 bildete dann eine schwierige Zuflucht, sie fühlte sich
auf eine fundamentale Einsamkeit zurückgeworfen: „So vergeblich zu lieben
ist wie zum Tod verurteilt sein, jeden Tag aufs Neue, und nicht zu
sterben.“
## Die Freiheit des Unbeeindruckbarseins
Einmal, als sie von dem Gefühl der Aussichtslosigkeit durchdrungen ist,
zitiert sie für sich aus Musils „Schwärmern“: „Alle letzten Dinge sind
nicht in Einklang zu bringen.“ Leben und Literatur gehen bei Bachmann
untrennbar ineinander über, und das geht über eine bloße Floskel weit
hinaus. Auf der einen Seite ist da ein unbedingtes Streben nach
Unabhängigkeit, auf der anderen Seite stehen nicht einlösbare Sehnsüchte.
Angesichts der vorherrschenden Geschlechterrollen hat die Absolutheit, mit
der sie ihr Ideal zu leben versucht, etwas äußerst Prekäres: „Meine dubiose
Freiheit: ich bin unbeeindruckbar.“
Die existenzielle Dimension, die das Schreiben für Bachmann hat, ist für
die Verhältnisse der aktuellen Gegenwart, mit ihrer intensiv ausgebauten
Infrastruktur des Literaturbetriebs, kaum noch nachzuvollziehen. Aber
gerade hier liegt der Kern der Rätselhaftigkeit, die Bachmann umgibt, ihrer
Fremdheit, ihres geradezu exemplarischen Lebens. Ihre Texte und ihre
Verhaltensweisen nach heutigen Prämissen beurteilen zu wollen, wäre
verfehlt. Bachmanns Gedichte ragen in ihrer Zeit heraus.
Dabei fällt auf, dass ihr Fluchtpunkt nicht die Gegenwart ist: „Wir nehmen
in unsre Erfahrungen die Erfahrungen der Vorangegangenen auf, und obgleich
es keinen nützlichen Einfluss gibt, sollen wir uns offenhalten für das
Einfließen von ‚Ausströmungen heiliger Münder‘, wie es in einem alten
griechischen Text heißt. Die ‚Zeitnähe‘ soll uns nicht kümmern; die Zeit
prägt uns ohne Zutun.“
## Neue Einblicke in die Biografie Bachmanns
Es tauchen in diesem Buch einige bisher neue Aspekte aus Bachmanns
Biografie auf. So bekommt die nur in Andeutungen bekannte, von 1955 bis zu
ihrem Tod 1973 währende lose, aber im Gegensatz zu allen anderen Affären
nie endende Beziehung zu dem französischen Journalisten Pierre Évrard erste
Konturen. Zwar wünscht sie sich Ende der sechziger Jahre eine gemeinsame
Wohnung mit ihm in Paris, aber es bleibt auch da bei seinen Bedingungen:
„gemeinsame Ferien, keine Fragen, Forderungen, Pläne“. Und es ist
frappierend, wie sehr [4][Paul Celan] Bachmanns Utopie einer Gemeinsamkeit
zwischen Literatur und Leben zu verkörpern schien, wie zäh sie an dieser
Fantasie festhielt und doch die Unmöglichkeit ihrer Verwirklichung
konstatieren musste – „die unendlichen Schmerzen, die zwei Menschen
einander zufügen, die Liebe, in der es keine Vergebung gibt, sondern Opfer
über das Ende hinaus.“
Sehr aufschlussreich sind einige zugespitzte Notate über die körperlich
extrem erschöpfende Anstrengung philosophisch-begrifflichen Denkens, über
Sexualität und Todesnähe, über Narzissmus, über psychische Verwerfungen in
ihren letzten zehn Lebensjahren – und leitmotivisch über die Unmöglichkeit,
mit einem Mann wirklich zusammenleben zu können: „Ich habe nur mehr einen
ekelhaften Geschmack im Mund und manchmal ein Gefühl der Erniedrigung, weil
ich gezwungen bin, mich mit den Gefühlen andrer auseinanderzusetzen, als
gingen sie mich etwas an. Und ich frage mich, wie weit man schuld ist an
Gefühlen und Leidenschaften, die man erweckt, und wie erbärmlich diese Welt
eingerichtet ist, dass einer den andern nie erreicht.“
Der schmale Band mit dem Titel „Senza casa“, der Ingeborg Bachmanns nervöse
Suche und Ortlosigkeit mit einer mehrfach von ihr selbst gebrauchten
Formulierung auf einen Nenner bringt, zeigt auf eindringliche Weise: Dem
Lebenswerk dieser Schriftstellerin ist nicht mit boulevardesker
Sensationsgier oder mit moralischen Verdikten beizukommen. Diese radikale
Konfrontation von Künstlertum und Gesellschaft schärft das nötige
Geschichtsbewusstsein.
24 Aug 2024
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## AUTOREN
Helmut Böttiger
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