| # taz.de -- Schriften zu Zeitschriften: Ingeborg Bachmanns Augen | |
| > Bachmann lieben, Borchardt lesen - die Zeitschriften "Spuren" und "Der | |
| > Titan" beschäftigen sich mit dem Dichter Paul Celan und dessen Liebe zu | |
| > Bachmann und der Lektüre. | |
| Bild: Paul Celan und seine Frau Gisèle Celan-Lestrange. | |
| Eine "Welt der Bezüge" schaffe der Dichter, so sah es Hugo von | |
| Hofmannsthal: "aus Vergangenheit und Gegenwart, aus Tier und Mensch und | |
| Traum und Ding, aus Groß und Klein, aus Erhabenem und Nichtigem". 1906 | |
| hielt der 32-Jährige die Rede "Der Dichter und diese Zeit" über | |
| seinesgleichen: "Er ist es, der in sich die Elemente der Zeit verknüpft. In | |
| ihm oder nirgends ist Gegenwart"; "sein Auge, wenn sonst keines, trifft | |
| noch - wie könnte er es wehren? - das lebendige Feuer von Sternen, die | |
| längst der eisige Raum hinweggezehrt hat." | |
| Der Dichter Paul Celan (1920-1970) war Hofmannsthal-Leser, Sternensucher im | |
| eisigen Raum, ein Bezüge herstellender Elementeverknüpfer. Und Augenfreund: | |
| Am 14. Juni 1957 entstand sein Gedicht "Sprachgitter", am Tag seiner | |
| Ankunft in Wien, wohin Celan zum ersten Mal seit 1948 gefahren war. Damals | |
| hatten Ingeborg Bachmann und er sich einige Wochen geliebt - nun erinnert | |
| er sich poetisch an das "Augenrund zwischen den Stäben", dessen "Iris, | |
| Schwimmerin, traumlos und trüb" und an "zwei Mundvoll Schweigen": "(Wär ich | |
| wie du. Wärst du wie ich./ Standen wir nicht/ unter einem Passat?/ Wir sind | |
| Fremde.)" | |
| Barbara Wiedemann, Herausgeberin des im Herbst erscheinenden Briefwechsels | |
| zwischen Bachmann und Celan, hat in einem Heft der Marbacher Spuren die | |
| Entstehung des Gedichts rekonstruiert. Vielleicht war es eine unmögliche | |
| Liebe: der in Czernowitz geborene Jude Celan, dessen Eltern im | |
| Vernichtungslager umgekommen waren, die Klagenfurterin Bachmann, deren | |
| Vater sich lange vor dem "Anschluss" 1938 in der damals noch illegalen | |
| österreichischen NSDAP engagiert hatte. "Corona" heißt Celans frühes | |
| Gedicht, das sich auf beider erotische Begegnung bezog: "Mein Aug steigt | |
| hinab zum Geschlecht der Geliebten:/ wir sehen uns an,/ wir sagen uns | |
| Dunkles." Zehn Jahre später erschienen ihm die Augen Ingeborg Bachmanns | |
| noch einmal im Gedicht. | |
| Einer der Auslöser für "Sprachgitter", so Wiedemann, sei jedoch eine | |
| unscheinbare Postkarte des Verlegers Günter Neske aus Pfullingen gewesen, | |
| die Celan an jenem Tag seiner Wiener Ankunft erhalten hatte. Darauf war vom | |
| "Sprechgitter" im Pfullinger Klarissenkloster die Rede: Dessen Nonnen | |
| hatten im Mittelalter freiwillig auf Kommunikation mit der Außenwelt | |
| weitgehend verzichtet und nur durch ein solches "Sprechgitter" in ihren | |
| Klostermauern mit dieser in Kontakt treten können. "Wir sind Fremde": Das | |
| abgewandelte Wort "Sprachgitter" wurde am gleichen Tag Celans Bild für die | |
| aussichtslose Nähe zwischen ihm und Ingeborg Bachmann. | |
| Dass Celan ein großer Lektüreverwandler war, belegt Joachim Seng in Heft 10 | |
| der Zeitschrift Der Titan, die sich dem Dichter, Essayisten, Polemiker und | |
| Übersetzer Rudolf Borchardt (1877-1945) verschrieben hat. "Dieser | |
| erstaunliche Rudolf Borchardt!", hatte Celan gelegentlich geäußert. Den | |
| Borchardt-Satz "Hat die Liebe Ihnen nie eine paradoxe oder wilde Formel | |
| geprägt, die Sie traf wie ein Stoß?" strich er sich natürlich an. In | |
| Notizheften bewahrte er Wendungen, die der faszinierte Leser vor allem in | |
| Borchardts Übersetzungen gefunden hatte; deren Spuren kann man in Celans | |
| Gedicht "Andenken" finden. | |
| Wie Borchardts Genius seine Mitmenschen anzog und abstieß, lässt sich in | |
| Heft 12 derselben Zeitschrift nachlesen: Ernst T. Harbricht, profunder | |
| Borchardt-Kenner und nebenbei gelegentlicher Mitarbeiter des | |
| Spiegel-Kulturteils, hat die weit verstreute Literatur gesichtet und sowohl | |
| ehrfürchtige als auch hochkomische Zeugnisse von Borchardts Zeitgenossen | |
| zusammengestellt. | |
| So fesselte bereits der Gymnasiast Rudolf einen Schulkameraden an einen | |
| Baum, damit dieser seine Gedichte anhörte. Und Hofmannsthal berichtete | |
| 1902: "Er brüllt. Er erschüttert die Fensterscheiben gleichmäßig durch | |
| meine, seine und sonstige Verse"; woraufhin Hofmannsthals Frau jedes Mal | |
| unauffällig das Zimmer verließ. | |
| Andere nahmen später weniger Rücksicht auf Borchardts kraftvolle Welt der | |
| Bezüge: "Das ist der Satan!", rief einmal ein zorniger Zuhörer seines | |
| Vortrags und lief hinaus, faustschwingend in die Nacht. | |
| "Spuren", Heft 80, 16 S., 4,50 €, [1][www.dla-marbach.de ] "Der Titan", | |
| Heft 10 u. 12, 2007, je 15 €, [2][www.rudolf-borchardt.de] | |
| 29 May 2008 | |
| ## LINKS | |
| [1] http://www.dla-marbach.de/ | |
| [2] http://www.rudolf-borchardt.de/ | |
| ## AUTOREN | |
| Alexander Cammann | |
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