# taz.de -- Roman „Ich an meiner Seite“: Hauptfigur des eigenen Lebens | |
> Die Bachmannpreis-Trägerin Birgit Birnbacher erzählt von Menschen, die | |
> vor allem funktionieren sollen. Mit bitteren Pointen. | |
Bild: Birgit Birnbacher, Autorin aus Österreich, freut sich über den Ingeborg… | |
Manche Freiheit ist gar keine. 26 Monate hat Arthur im Gefängnis verbracht, | |
und kaum ist er entlassen, steht der junge Mann wieder vor verschlossenen | |
Türen. Ohne Arbeit gibt es kein regelmäßiges Einkommen und damit keinen | |
Mietvertrag. | |
Wahrscheinlich würde Arthur, der gerade mal 22 Jahre alte Antiheld, nach | |
kurzer Zeit wieder kriminell werden, wenn es nicht die Bewährungshilfe, ein | |
Wohnprojekt für Haftentlassene und den unkonventionellen Therapeuten | |
Konstantin Vogl gäbe: „Um Theorie scherte er sich immer nur exakt so viel, | |
wie es eben unbedingt notwendig war. Den ganzen Rest bestritt er mit | |
Versuch und Irrtum, mit Intuition und Inbrunst, mit dem Willen, wirklich | |
etwas zu bewegen.“ | |
Zum Ansatz, den Vogl entwickelt hat, gehört das „Schwarzsprechen“. Arthur | |
soll Tonaufnahmen an den Therapeuten schicken, mit Erzählungen von sich, er | |
soll hineinschauen in die biografische Dunkelheit. Aus Arthurs Anekdoten | |
möchte Vogl, den sie liebevoll Börd nennen, eine „Optimalversion“ seines | |
Schützlings entwickeln, eine „Hauptfigur“ an Arthurs Seite, die ihm in | |
Krisen Orientierung bieten kann. | |
„Sie sollen sich über diese Figur dermaßen klar werden“, sagt Börd, „d… | |
Sie sie in brenzligen Situationen ‚spielen‘ können, in sie hineinschlüpfe… | |
Sich über etwas hinwegretten, indem Sie so tun, als wären Sie diese Version | |
von sich, die bessere, die weichgezeichnete, die klügere. Und deshalb nicht | |
straffällig werden.“ | |
## Bittere Pointen | |
[1][Birgit Birnbachers] Roman mit dem so treffenden Titel „Ich an meiner | |
Seite“ hält zahlreiche bittere Pointen bereit, etwa über die Sinnlosigkeit | |
von Gefängnisstrafen und die Mühen der sogenannten Resozialisierung. Doch | |
die Autorin schreibt nicht nur klug und kenntnisreich über das System der | |
Bewährungshilfe, sie überführt die therapeutische Theorie auch | |
beeindruckend kunstvoll in Literatur. | |
Allein die spiegelbildliche Anlage und Entwicklung der Figuren überzeugen. | |
Während sich Arthur immer mehr jener fiktiven Hauptfigur annähert, also dem | |
optimalen Ich an seiner Seite, degradiert sich Dr. Vogl alias Börd zur | |
Nebenfigur im eigenen Leben – als wolle er beweisen, dass seine Therapie | |
auch in die umgekehrte Richtung funktioniert. | |
Die Literatur der 1985 im österreichischen Schwarzach geborenen | |
Schriftstellerin Birgit Birnbacher ist wirklichkeitsgesättigt, ohne sich | |
einem einfachen Realismus zu verschreiben. Selten verlaufen die Lebensläufe | |
ihrer Figuren geradlinig; simple Schuldzuschreibungen finden sich in dieser | |
gut durchgearbeiteten Prosa nie. Vielmehr geht es darum, soziale, | |
politische und emotionale Widersprüche offenzulegen. | |
In diesem Fall lohnt durchaus ein Blick in die Vita der Schriftstellerin: | |
Birnbacher brach ihre Schulausbildung ab, machte eine Lehre und arbeitete | |
im Rahmen der Entwicklungshilfe in Äthiopien und Indien. Später holte sie | |
ihr Abitur nach und studierte Soziologie. Von der Theorie ging es wieder in | |
die Praxis der Sozialarbeit, und tatsächlich prägen diese beruflichen | |
Erfahrungen auch ihre literarischen Texte. Birnbacher erzählt in ihrer | |
vielfach ausgezeichneten Prosa von jenen Menschen, die „ganz unten“ sind | |
oder zu sein scheinen. | |
Im vergangenen Jahr gewann sie beim Klagenfurter Wettlesen den renommierten | |
[2][Bachmannpreis] mit einer Geschichte über prekäre Wohnverhältnisse. Ihr | |
neuer Roman „Ich an meiner Seite“ ist keineswegs die lange Version dieser | |
preisgekrönten Erzählung, sondern ein eigenständiges Werk, in dem die | |
Autorin ihren nahezu soziologischen Stil weiterentwickelt, der immer auch | |
eine existenzphilosophische Dimension aufzeigt. | |
## Identität ist die Summe deiner Entscheidungen | |
Arthur nämlich ist ein in die Welt Geworfener, einer, der frei nach Sartre | |
erst begreifen muss, dass seine Identität auch die Summe seiner | |
Entscheidungen ist, so unmenschlich die Umwelt sich ihm gegenüber verhält. | |
Arthur wird als defensiver Charakter beschrieben, der erst aktiv wird, wenn | |
es gar nicht mehr anders geht. Mit dieser Haltung wird er auch in die | |
„Hauptfigurentherapie“ einsteigen. Er hat schlichtweg keine andere Wahl, | |
wenn er eine zweite Chance haben will. | |
Also beginnt er mit den autobiografischen Aufzeichnungen, die für den Roman | |
eine wichtige Erzählebene, quasi eine authentische Audioquelle darstellen: | |
„Eins, zwei, check. Funktioniert das überhaupt? Arthur Galleij für Doktor | |
Vogl, Aufnahme eins oder so, check. (…) Das Aufwachsen also, haben Sie | |
gesagt. Darüber soll ich sprechen. Dann sagen wir 1988. (…) Viel weiß ich | |
eigentlich nicht aus dieser Zeit. So einzelne Geschichten, mit denen man | |
später seine Herkunft erzählt.“ | |
Birnbacher kontrastiert die Aufnahmen mit Passagen einer allwissenden | |
Erzählerin, die ihre Figuren behutsam, aber immer auch mit gewisser | |
Radikalität führt. Arthur, so erfahren wir aus den sich ergänzenden | |
Perspektiven, wächst ohne leiblichen Vater auf, und Georg, der neue Freund | |
von Mutter Marianne, spricht im Grunde nie mit Arthur und seinem Bruder | |
Klaus, sondern immer nur über sie, man könnte auch sagen: an ihnen vorbei. | |
Kleine und große Verluste prägen Kindheit und Jugend der Protagonisten. | |
Georg und Marianne beschließen, nach Spanien auszuwandern und ein Hospiz zu | |
gründen. Das Geschäft mit den Sterbenskranken bedeutet wirtschaftliche | |
Sicherheit für die beiden, für Arthur ist der Wegzug von Freunden vor allem | |
mit einem Gefühl der Fremdheit verbunden. | |
## Kuriose Dreiecksbeziehung | |
Bruder Klaus fremdelt noch viel deutlicher, schließt sich im Zimmer ein, | |
verweigert die Kommunikation und verlässt schließlich die Familie. Bald | |
versucht auch Arthur, eigene Wege zu gehen, lässt sich auf eine kuriose | |
Dreiecksbeziehung ein, die durch einen tödlichen Unfall aufgelöst wird. | |
Weil die Mutter sich nicht um den Sohn kümmert, muss Arthur seine | |
fundamentale [3][Lebenskrise] allein bewältigen. Er flieht vor den | |
traumatischen Erlebnissen, kehrt zurück nach Österreich und landet in Wien, | |
allerdings ohne einen Plan, das Leben in der Großstadt zu finanzieren. Erst | |
spät im Roman erfahren wir, welche Straftaten Arthur begeht, und daher | |
sollen diese tatsächlich interessanten Details nicht verraten werden – | |
zumal der Text von einer geschickten Spannungsdramaturgie lebt. | |
Gerade haben wir noch übers Arthurs Therapiegespräch geschmunzelt, lesen | |
wir auch schon eine drastische Gefängnisszene. Die Gewalt im Gefängnis wird | |
Arthur noch verfolgen, als er längst nicht mehr eingesperrt ist. | |
Schweißausbrüche und Selbstzweifel sind die Folge. Arthurs einziges Glück | |
ist eine todkranke Frau namens Grazetta, die Arthur noch im elterlichen | |
Hospiz in Spanien kennengelernt hat. Sie ist nach Wien gezogen, um die | |
letzten Lebenstage im eleganten Hotel Bristol zu verbringen. | |
## Finstere Bühne des Lebens | |
Grazetta kennt sich mit Hauptrollen bestens aus, da sie mal erfolgreiche | |
Schauspielerin war. Diese Lichtgestalt auf der finsteren Bühne des Lebens | |
wird Arthur nicht nur ein wertvolles Kuvert hinterlassen, sondern ihm auch | |
das Gefühl geben, dass nach einer missglückten Vorstellung durchaus eine | |
bessere folgen kann, dass Auftritt und Abgang mit Würde zu gestalten sind | |
und manchmal auch das Theaterstück umgeschrieben werden muss. | |
Mit dieser starken Botschaft könnte der Roman enden, aber Birgit Birnbacher | |
ist eine Künstlerin der literarischen Volte, und so überrascht sie bis zur | |
letzten Seite, indem sie kurz vor Schluss alle Muster im Textgewebe noch | |
einmal durcheinanderbringt. Es bleibt vieles offen, nicht nur für Arthur, | |
sondern auch für die Interpretation seiner Geschichte. | |
Gesellschaftliche Verhältnisse aber, in denen ein Absturz wie der von | |
Arthur möglich ist, sind weder human noch frei zu nennen. So entwickelt | |
sich aus dem soziologisch-literarischen Blick der Autorin eine überzeugende | |
Anklage gegen eine Gesellschaft, die aus Menschen vor allem funktionierende | |
Wirtschaftssubjekte machen will. | |
21 Apr 2020 | |
## LINKS | |
[1] /Bachmannpreis--Nachlese/!5603841 | |
[2] /Bachmannpreis--Tag-3/!5608421 | |
[3] /Gianna-Nannini-ueber-Lebenskrisen/!5484778 | |
## AUTOREN | |
Carsten Otte | |
## TAGS | |
Literatur | |
Ingeborg-Bachmann-Preis | |
Roman | |
Literatur | |
Literatur | |
Film | |
Literatur | |
Schwerpunkt Coronavirus | |
Literatur | |
Ingeborg-Bachmann-Preis | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Neuer Roman von Birgit Birnbacher: Arbeitstiere auf Lebenszeit | |
In Birgit Birnbachers Roman „Wovon wir leben“ träumen die Männer nachts v… | |
ihren Maschinen. An den Frauen im Dorf bleibt die Fürsorgearbeit hängen. | |
Bachmannpreis in Klagenfurt: Mehr Vollkornbrot täte gut | |
Dieses Jahr trifft sich der Literaturbetrieb wieder leibhaftig beim | |
Bachmannpreis in Klagenfurt. Zu Beginn hätte das Wettlesen nahrhafter sein | |
können. | |
Sozialdrama „Oleg“: Ein Außenseiter im Eis | |
Überlebenskampf im Kapitalismus: Der Spielfilm „Oleg“ erzählt mit | |
nüchterner Distanz vom Abgleiten eines Menschen. | |
Roman über Eroberung Amerikas: Die Welt als stinkendes Irrenhaus | |
„Die Eroberung Amerikas“ heißt der neue Roman von Franzobel. Der | |
Österreicher erzählt darin in wüsten Szenen von einem erfolgsverwöhnten | |
Konquistador. | |
Bachmannpreis coronabedingt virtuell: Neue Gesichter lesen im Stream | |
Der Bachmannpreis startet nach einigem Zögern am 17. Juni seine erste rein | |
virtuelle Ausgabe. Schwimmen im Wörthersee fällt dieses Jahr aus. | |
Bachmannpreis – Nachlese: Wer euch schreibt | |
Der Bachmannpreis verlief in diesem Jahr eher durchschnittlich. Einen | |
politischen Text mit Nachhall gab es nur außerhalb des Wettbewerbs. | |
Bachmannpreis – Tag 2: Im Schwindel | |
Am zweiten Wettbewerbstag in Klagenfurt dominieren schwere Themen: Genozid, | |
Trauer, Trennung. Diskutiert wird auch über Möwenkacke. | |
Schriften zu Zeitschriften: Ingeborg Bachmanns Augen | |
Bachmann lieben, Borchardt lesen - die Zeitschriften "Spuren" und "Der | |
Titan" beschäftigen sich mit dem Dichter Paul Celan und dessen Liebe zu | |
Bachmann und der Lektüre. |