# taz.de -- Neuer Roman von Birgit Birnbacher: Arbeitstiere auf Lebenszeit | |
> In Birgit Birnbachers Roman „Wovon wir leben“ träumen die Männer nachts | |
> von ihren Maschinen. An den Frauen im Dorf bleibt die Fürsorgearbeit | |
> hängen. | |
Bild: Ein Maskenweber bei der Arbeit – ein Motiv bei Birgit Birnbacher | |
Der im südlichen Afrika beheimatete Maskenweber ist ein Meister des | |
Nestbaus. Rund 25 seiner aus Schilf, Gras und anderen Pflanzenfasern | |
entstehenden Gebilde konstruiert er jährlich. Für jedes Nest braucht der | |
knapp 15 Zentimeter lange Vogel rund fünf Tage, wobei er für ein einziges | |
Weibchen bis zu fünf Nester errichten muss. Man könnte sagen: Der | |
Maskenweber ist ein echtes Arbeitstier. | |
Als dieses fungiert er symbolisch in Birgit Birnbachers neuem Roman „Wovon | |
wir leben“. Nur kurz taucht er auf, gebannt auf eine Postkarte, initiiert | |
er die Affäre zwischen der Protagonistin Julia Noch und einem verheirateten | |
Kollegen. Der Maskenweber ist nur einer von vielen kleinen Hinweisen auf | |
das Thema Arbeit, das Birgit Birnbacher, die [1][Bachmann-Preisträgerin des | |
Jahres 2019,] wie beiläufig in ihren Roman einstreut. | |
Julia hat ihre Arbeit als Krankenschwester soeben verloren, ein | |
Behandlungsfehler sowie eine Lungenkrankheit nach einer (Covid?)-Infektion | |
führen dazu, dass sie sich neu orientieren muss. Auch der Vater, bei dem | |
sie in der ländlichen Heimat Zuflucht sucht, ist, seit die letzte Fabrik in | |
der Umgebung schließen musste, arbeitslos. So wie die meisten Männer im | |
Dorf. Sie sitzen tagein, tagaus im einzig noch geöffneten Wirtshaus der | |
Gegend, betrinken sich und verspielen, was ihnen noch geblieben ist. Unter | |
anderem die Ziege Elise, um die sich fortan Julia kümmern soll. | |
Wer sonst? „Fürs Fleisch und Blut, fürs Gebären, fürs Großziehen, die | |
Sauberkeit und den Dreck, für die Exkremente, die Tränen und den Schweiß | |
waren immer die Frauen zuständig.“ Doch die Mutter ist kürzlich abgehauen, | |
hat das Innergebirge fluchtartig verlassen – gen Italien. Da kommt Julia | |
als Tochter gerade recht, um sich neben dem Vater und Elise auch zeitweise | |
um den eigentlich in einer Klinik lebenden Bruder zu kümmern. Die Fürsorge | |
wird ausgelagert, für die Bedürfnisse der anderen „sollen Mutter oder ich | |
sorgen, bis in alle Ewigkeit“. | |
## Immer mehr geben als nehmen | |
Ähnlich wie die ebenfalls österreichische [2][Autorin Mareike Fallwickl] | |
(„Die Wut, die bleibt“) widmet sich Birnbacher dem Thema (Für-)Sorgearbeit | |
und zeigt auf, an wem diese allzu oft wie selbstverständlich hängen bleibt: | |
den Frauen. Doch Birnbacher weitet aus, was bei Fallwickl im Häuslichen, | |
im vermeintlich Privaten bleibt. Denn nicht erst nachdem sie zurück in die | |
Heimat kommt, bestimmen Pflege und Fürsorge Julias Leben. | |
Einatmen. Ausatmen. Dabei „immer mehr geben als nehmen“. Das ist Julias | |
Überlebensstrategie, war sie in ihrem durchgetakteten Beruf, einem | |
„eigentlich doch unplanbaren Bereich, der Arbeit am Menschen“. Und ist sie | |
auch weiterhin im Leben mit einer chronisch gewordenen Krankheit und den | |
Care-Tätigkeiten, die sie im elterlichen Haus erwarten. | |
„Wie ich mich hier sofort entscheiden muss: Kümmere ich mich um ihn […] | |
oder fordere ich, dass er sich um mich kümmert, und ärgere mich jeden Tag, | |
dass es zu wenig ist“, lässt Birnbacher ihre Protagonistin denken und | |
stellt dabei Familienverhältnisse und die damit einhergehende Verteilung | |
von Verantwortlichkeiten in einer patriarchalen Gesellschaft infrage. Wer | |
kümmert sich? Wer arbeitet? Und ist nicht beides Arbeit, die einfach nicht | |
als gleichwertig anerkannt wird? | |
Inspirieren lassen hat sich Birnbacher, geboren 1985 in ebendieser Region | |
im Salzburger Land, für ihren Roman unter anderem von einer klassischen | |
Studie der österreichischen Sozialpsychologin Marie Jahoda. Anfang der | |
1930er erforschten Jahoda und ihr Team die sozio-psychologischen | |
Auswirkungen von Arbeitslosigkeit auf Menschen im davon stark betroffenen | |
Ortsteil Marienthal nahe Wien. Das Ergebnis der empirischen Forschung | |
zeigte, dass Langzeitarbeitslosigkeit ein Gefühl von Isolation und | |
Resignation fördert. | |
## Wenn die Sinnhaftigkeit wegbricht | |
Was bleibt also, wenn die Sinnhaftigkeit in einer kapitalistisch | |
ausgerichteten Gesellschaft in der Arbeit liegt und diese plötzlich | |
wegbricht? „Mit jedem Herzschlag und jedem Atemzug war jedes einzelne | |
Rädchen verwachsen mit dem großen Ganzen – jeder einzelne Mensch ein | |
Arbeiter auf Lebenszeit.“ Und während die Männer bei Birnbacher noch nachts | |
von ihren Maschinen träumen, „mit denen sie verwachsen waren, wie mit | |
Geliebten“, sind die Ehen längst geschieden oder endeten verwitwet. | |
Ganz Soziologin, die sie ist, schafft Birnbacher es bestens, dieses Gefühl | |
der endlosen Apathie im vor sich hin siechenden Dorf einzufangen, als | |
Autorin verleiht sie ihm sprachlich Gewicht. Der selbstmitleidige | |
Alkoholismus der Männer bricht sich in vermeintlichen Schimpfwörtern | |
nieder; Frauen, die weggehen, sind „Huren“, Menschen, die etwas gegen | |
alkoholisiertes Autofahren haben, sind „schwul“, und wer es raus aus dieser | |
Tristesse schafft, ist ein „Verräter“. | |
Schuld sind ohnehin immer die anderen. Und doch hat Birnbachers Blick auf | |
das Dorfgefüge nie etwas Verurteilendes. Zuweilen weist sie sogar ihre | |
Protagonistin zur Selbstreflexion an, wenn diese sich als mittellose | |
Rückkehrerin allzu sehr über die Dortgebliebenen erhebt. | |
## Mit der Gabe der Beobachtung | |
Obwohl literarisch kein Novum – im deutschsprachigen Raum erfreut sich der | |
Dorfroman großer Beliebtheit –, ist Birnbachers Roman angenehm einnehmend. | |
Statt das Leben auf dem strukturschwachen Land zu horrifizieren, wie es ihr | |
Kollege, der österreichische Autor Wolf Haas, auf seine humorvolle Art tut, | |
zeichnet Birnbacher ein zwar ungeschöntes, aber durchaus realistisches | |
Bild: eines zwischen Hoffnungslosigkeit und der Suche nach Sinnhaftigkeit. | |
Sie prangert an, nicht mit der Holzkeule, nicht mit lauten Forderungen, | |
sondern mit der Gabe der Beobachtung. | |
Ihre Sprache bleibt dabei, passend zum Setting, meist schnörkellos. Und | |
doch scheint auch immer wieder etwas Poetisches zwischen den Zeilen hervor, | |
etwa wenn „gedankliche Rostflecken“ Julias innere Monologe befallen. | |
Wenn der Maskenweber mit seinen Nestern fertig ist, zerstört er sie meist | |
wieder. Er webt und webt, dabei kann er nur wenige Nester nutzen, „den Rest | |
der Zeit webt er umsonst“. Dass der Mensch so nicht leben muss, ist | |
vielleicht die Quintessenz dieses wunderbaren Romans. | |
20 Mar 2023 | |
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## AUTOREN | |
Sophia Zessnik | |
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