| # taz.de -- Debütroman von Marlen Hobrack: Lesen im Leopardenlook | |
| > Alte weiße Männer mag keiner mehr lesen, eine weibliche | |
| > Aufsteigerinnengeschichte schon. „Schrödingers Grrrl“ folgt einer | |
| > literarischen Hochstaplerin. | |
| Bild: Protagonistin Mara hat eine Vorliebe für Leopardenmuster und Lack-Outfits | |
| Im Leben von Mara Wolf spielen Boxen eine entscheidende Rolle. Da sind die | |
| vielen Kartons voller Kleider, die sich die 23-Jährige in die Wohnung | |
| liefern lässt, um sich darin zu fotografieren – und den Großteil wieder | |
| zurückzuschickt. Da sie Waren, die sie behält, per Ratenkauf finanziert, | |
| entscheidet ein Gang zur „Blackbox“ im Hausflur, dem Briefkasten, darüber, | |
| ob es weitergehen kann mit dem Alltag auf Pump, oder ob ein Gang zum | |
| Jobcenter ansteht. | |
| „Bis zum Öffnen ihres Briefkastens war auch Mara erledigt und | |
| nicht-erledigt. Erledigt für den Fall, dass Mahnungen und Rechnungen auf | |
| sie warteten. Nicht-erledigt für den Fall, dass sie ausgeblieben waren. Bis | |
| zum Öffnen der Box starb sie tausend Tode, nicht nur einen wie die Katze.“ | |
| Der Briefkasten als „Schrödingers Giftbox“: Mit dem berühmten | |
| Gedankenexperiment des Quantenphysikers Erwin Schrödinger (1887–1961) setzt | |
| die Autorin Marlen Hobrack den Ton für ein interessantes Spiel mit Annahmen | |
| und Realitäten. | |
| Die Original-Versuchsanordnung von Schrödinger geht kurz gefasst so: Eine | |
| Katze wird in eine Kiste mit einem radioaktiven Präparat eingesperrt. | |
| Zerfällt das Präparat, wird Gift freigesetzt und die Katze stirbt. Zerfällt | |
| das Präparat nicht, lebt die Katze. So lange die Box aber ungeöffnet | |
| bleibt, ist die Katze, theoretisch, gleichzeitig lebendig und tot. Ein | |
| Paradox: Während atomare Teilchen gleichzeitig zwei verschiedene Zustände | |
| haben können, ist das bei Lebewesen nicht möglich. | |
| ## Junges Unterschichtsleben | |
| Marlen Hobracks Roman „Schrödingers Grrrl“ ist die literarische | |
| Entsprechung des Versuchsklassikers, eine literarische Giftbox. Zu Beginn | |
| steckt die Protagonistin Mara Wolf noch im Hamsterrad eines jungen | |
| Unterschichtenlebens: Schulabbrecherin ohne Abschluss, liegt zwischen | |
| Jobcenterterminen depressiv im Bett, hängt zwischen Supermarkt, Kneipe und | |
| Muttis vollgemüllter Plattenbauwohnung ab – und zwischendrin träumt sie | |
| sich ins Internet, wo sie eine glamouröse Mode-Influencerin ist. Oder sein | |
| könnte: „Ich war nicht zu hässlich; ich war nur zu arm. Mit dem nötigen | |
| Kleingeld würde ich ungefiltert in der Welt verkehren können.“ | |
| Hübsch, experimentierfreudig, arm: Für drei mittelalte Männer aus Berlin | |
| ist Mara Wolf die perfekte Projektionsfläche für einen faustisch anmutenden | |
| Pakt. Sie soll sich als Newcomer-Autorin ausgeben, auf Lesungen und | |
| Presseterminen den Text eines anderen performen. Das Kalkül: Der | |
| identitätshörige Literaturbetrieb wird die | |
| Von-der-Putzfrau-zur-Millionärin-Story lieben und den Roman auf die | |
| Bestsellerlisten katapultieren. | |
| Alle wollen so profitieren: Mara, der halbseidene Agent Hanno, der | |
| Verleger, und der Autor, der sich als alternder weißer Mann von der | |
| Aufmerksamkeitsökonomie abgehängt fühlt. Mara lässt sich auf das Experiment | |
| ein; sie, die nicht in der Lage ist, sich um ihren eigenen Kater zu | |
| kümmern, wird zur Katze des Literaturbetriebs. | |
| Tot oder lebendig? Hochstaplerin oder Opfer? Betrug oder Spiel? Lustvoll | |
| führt Marlen Hobrack die Konventionen des Gewerbes vor, in das sie selbst | |
| quer eingestiegen ist. In ihrem 2022 veröffentlichten autobiografischen | |
| Sachbuch „Klassenbeste. Wie Herkunft unsere Gesellschaft spaltet“ beschrieb | |
| die gebürtige Bautzenerin ihre Klassenreise: von der alleinerziehenden | |
| jungen Mutter aus einfachen Verhältnissen zur ([1][auch häufig für die taz | |
| schreibenden]) Journalistin und Schriftstellerin. | |
| ## Hartz-IV-Empfängerin bei der Psychoanalyse | |
| Ein bisschen Marlen Hobrack dürfte auch in Mara Wolf stecken. Wie viel, das | |
| bleibt Sache der Autorin, die permanent zwischen Ich-Perspektive, dritter | |
| Person und allwissender Erzählperspektive springt, so dass Mara Wolf, ihre | |
| Dresdener Clique und all die anderen stets auf Distanz zur Leserin bleiben. | |
| Die Protagonistin bleibt widersprüchlich und kantig, als weigere sie sich, | |
| eine runde identifikationsfähige Figur abzugeben. | |
| Sie ist in einem Haushalt ohne Bücher aufgewachsen, hat die Schule nach der | |
| Neunten abgebrochen – und nennt ihren Instagram-Account „Schrödingers | |
| Grrrl“. Unglaubwürdig!, möchte man beim Lesen rufen – zu viel reflektierte | |
| Selbstironie! Auch dass Mara sich mit Paul, für den sie eine Obsession | |
| hegt, in Liverpool herumtreibt und mit dem Englisch so gar keine Mühe hat, | |
| nimmt man ihr nicht ab. Nach neun Jahren Schule? Und seit wann gehen | |
| Hartz-IV-Empfängerinnen zur Psychoanalyse? | |
| Andererseits: Was weiß die durchschnittliche Romanleserin aus der | |
| Mittelschicht schon über echte Hartz-IV-Empfängerinnen? Ungefähr so viel | |
| wie die im Buch durchweg unsympathisch gezeichneten Akademiker:innen, | |
| die den jungen Shootingstar aus der Gosse bei Lesungen beäugen wie | |
| Insektenforscher:innen. | |
| Mara Wolf ist Ostdeutsche und Tochter einer Putzfrau (wie die Autorin) und | |
| hört gerne Metal (wie die Autorin). Mit ein paar geschickt gesetzten | |
| Authentizitätsmarkern imprägniert Hobrack ihren Roman gegen den | |
| Klassismus-Vorwurf, den man beim Lesen sofort im Kopf hat: Diese Mara ist | |
| kaufsüchtig und depressiv, ernährt sich mies und kleistert sich den | |
| ruinierten Teint mit Make-up zu. Sie betrügt das Amt. Und dann diese | |
| Vorliebe für Leopardenleggins und nuttige Lack-Outfits – eine | |
| Unterschichts-Karikatur! | |
| ## Fakten versus Fiktion | |
| Im Roman gerät die Fake-Jungautorin durch solche Vorwürfe gehörig unter | |
| Druck, geäußert von einem Publikum, das alles Geschriebene zu buchstäblich | |
| nimmt und gleichzeitig als Fiktion nicht ernst genug. Das kann nicht | |
| gutgehen – als die ganze Versuchsanordnung implodiert, ist am Ende | |
| mindestens eine Katze tot, und dem „echten“ Autor bleibt nur hohles Pathos: | |
| „Es ist das eine, den Leser zu betrügen. Aber die ganze Literatur?“ | |
| „Schrödingers Grrrl“ ist nicht nur eine unterhaltsam erzählte | |
| Hochstaplergeschichte, sondern auch eine nachdenklich stimmende | |
| Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Fakten und Fiktion in der | |
| Literatur. Das Publikum verlangt nach Authentizität, die Autorin liefert. | |
| Eine maßgeschneiderte Story für einen Betrieb, in dem jede Autorenstimme | |
| eine Behauptung ist, jede öffentliche Persona so konstruiert ist wie ein | |
| fiktionaler Text. | |
| Und was ist eigentlich die Feier der Originalität noch wert, wenn eine | |
| [2][gut gefütterte KI] bereits in der Lage ist, Gedichte zu schreiben? Für | |
| die sicher bald anstehende erste Preisverleihung an eine künstlich | |
| intelligente Autorin ist die Geschichte von Mara Wolf schon mal eine gute | |
| Einstimmung. | |
| 14 Apr 2023 | |
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| ## AUTOREN | |
| Nina Apin | |
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