Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Buchmesse-Spezial: Lesen, aber mit Haltung
> Setzen, Stellen, Liegen? Welche Position ist die beste, damit die Lektüre
> eines Buches zum Vergnügen wird? Wir haben den Test gemacht.
Bild: Wie man sich legt, so liest man
Die Welt besteht aus Ablenkungen, die [1][Lektüre] eines Buchs will da gut
geplant sein. So suche ich mir einen ruhigen Ort, schalte die Deckenlampe
aus und eine kleine an, verstaue das Handy außerhalb der Greifweite,
platziere mich, ziehe eine Decke bis zum Bauch, werfe den rechten über den
linken Fuß oder andersrum, rücke die Hüfte gerade, schlage eine Seite auf
und: lese.
Doch kaum bin ich in der Story angekommen, wird es ungemütlich. Mein Körper
ruft mich auf, die Position zu wechseln. Ein Anlass, doch aufs Handy zu
schauen oder Tee zu machen. Das reißt mich aus der Welt, die ich durch mein
Buch doch bereisen wollte.
Ich gehe die Sache grundsätzlicher an und suche nach einer nachhaltigen,
nach der besten Leseposition. Dazu nehme ich die jeweilige Haltung ein,
schlage [2][das „Blutbuch“ von Kim de l’Horizon] auf und stoppe die Zeit,
wie weit ich komme.
## Am Tisch sitzend
Typische Orte: Schreibtisch, Büro, Terrasse
Theorie: Gerader Rücken auf einem Stuhl, die Knie bilden einen rechten
Winkel, die Füße flach auf dem Boden (wichtig!, schreiben jedenfalls
Buchblogs). Überhaupt soll der menschliche Körper am Tisch kubistischen
Prinzipien folgen, Berufsgenossenschaften empfehlen: „Oberarme senkrecht,
Unterarme waagerecht, Blickwinkel ca. 40 Grad nach unten.“ Eine Haltung, in
der sich nebenbei Notizen machen lässt, sie gilt nicht umsonst als Ideal
der Arbeitswissenschaft – die einzige Haltung, die ergonomisch so wirklich
erforscht ist.
Das Problem: So lässt es sich aushalten, aber es ist halt null gemütlich.
Und eh sitzen wir mit unserem dauerlangen Rücken einem Missverständnis auf.
„Der [3][Arbeitsplatz] muss so eingerichtet sein, aber das heißt nicht,
dass Sie acht Stunden so sitzen sollen“, sagt Bernd Kladny von der
Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und Unfallchirurgie. „Sie dürfen
lümmeln und sich neigen. Zwei bis drei Haltungswechsel pro Stunde sollten
es schon sein.“
Praxis: Ich starte im „Blutbuch“ auf Seite neun: „Beispielsweise habe ich
‚es‘ dir nie offiziell gesagt.“ Bereits nach zwei Seiten will sich der
untere Nacken strecken, Richtung Himmel. Nach vier Seiten Bedürfnis, den
Rücken zu knacksen, ich tue es. Nach neun Seiten kündigt sich ein Schmerz
in den Wirbeln an, nach 15 Seiten Drang, die Beine zu überschlagen, ich
widerstehe. 19 Seiten: Druck im Lendenwirbelbereich, ich kreise das Becken
etwas, Gähnen. Nach 56 Seiten: Ich bin sehr müde geworden. Letzter Satz,
Seite 64: „Ich bin also zum Bäcker und hab ein Pfünderli geholt.“
Dauer: 1 Stunde, 17 Minuten, 38 Sekunden.
## Nach vorne gebeugt
Typische Orte: Toilette, U-Bahn, Wartezimmer
Theorie: „Meine besten Lese-Erlebnisse fanden auf der Toilette statt“,
schreibt der Schriftsteller Henry Miller, „es gibt Passagen im Ulysses, die
nur auf der Toilette gelesen werden können, wenn man ihre ganze Würze
auskosten möchte“. Unterarme auf den Oberschenkeln abstützen und blättern:
Wohl keine Haltung passt besser zum Ausdruck „über einem Buch brüten“. Sie
dehnt sogar den Rücken.
Nur den Armen gefällt das auf Dauer nicht. In englischen Bibliotheken fand
sich ab dem 18. Jahrhundert eine Lösung: der Hahnenkampfstuhl. Ein Stuhl,
auf den Sie sich andersrum als gewohnt setzen, also die Brust statt den
Rücken an die Lehne drücken und auf einem Pult blättern, das aus der
Stuhllehne ragt. Die Arme finden auf Polstern Platz.
Praxis: Start Seite 64, „Als ich es der Hexe brachte …“ Nach elf Seiten:
schwere Schultern und unangenehmes Ziehen im rechten Handgelenk. Nach 20
Seiten Schmerz im Bein, da wo der Ellenbogen reindrückt. Schluss ist auf
Seite 97: „Die Meer badet das Kind.“ Die Unterarme schmerzen erst, als ich
mich aus der Haltung löse.
Dauer: 38 Minuten,
20 Sekunden.
## Am Sofa kniend
Typischer Ort: [4][Wohnzimmer]
Theorie: Nach einer „bequemen Lese-Position“ gefragt, antwortet
gutefrage.net-User*in Inuitalia: „Ich nehme mir ein dickes Kissen, welches
nicht beim Draufknien bis zum Boden ‚sinkt‘ (…) Ich setze mich vor mein
Sofa (ein Bett sollte es auch tun) und stütze die Ellenbogen darauf ab. Ein
bisschen Rumprobieren sollte dich auf diesem Weg zu der perfekten
Leseposition führen.“
Darauf man muss erst mal kommen. Der französische Maler Emmanuel Benner
malte im 19. Jahrhundert Maria Magdalena in dieser Position lesend in der
Wüste. Nackt. Überhaupt hatten lesende Frauen zu dieser Zeit offenbar etwas
Verruchtes an sich, aber dazu kommen wir noch.
Praxis: Start Seite 97: „Sie singen zusammen“, nach acht Seiten merke ich
die gepressten Lendenwirbel etwa da, wo diese zwei Knubbel neben der
Wirbelsäule sind, dorthin schreitet der Schmerz. Eine weitere Seite später
höre ich auf bei „nur die Hoden, die Wurzeln seiner Männlichkeit, die ihn
auch zum Unheil bewegt hatten, wurden unter die Erde verbannt“.
Dauer: 11 Minuten, 2 Sekunden. Da hätte ich mehr erwartet.
## Im Stehen
Typische Orte: Bürgeramt, Bahnhof, an eine Wand gelehnt oder an einem
Stehtisch
Theorie: Johann Adam Bergk, 1769 in Thüringen geboren, war so etwas wie ein
Pop-Philosoph. So schrieb er „Die Kunst, Bücher zu lesen“ und klamüsert
dort aus, wie und zu welchem Zweck jeweils Schauspiele, Gedichte oder
Romane (gute wie schlechte) zu lesen seien. In einer Sache lag er daneben:
„Im Stehen zu lesen ist für den Kopf und für die Füße nachteilig; jener
bekommt den Schwindel, diese fühlen eine unnatürliche Schwäche, und wir
sind fast nicht imstande, uns selbst zu tragen.“
Die Wahrheit ist, der Körper ist ein Pendel, und so lange das in Schwingung
bleibt, ist doch alles gut. Und an eine Wand gelehnt kommt das Lesen im
Stehen doch extrem lässig rüber.
Praxis: Seite 105, „Orchideen sind eine junge Familie“. Nach acht Seiten
pulsiert das Blut in den Fersen, ich wippe automatisch auf die Zehen und
zurück. So schwingt die Welt um mich, wie angenehm! Ein paar Seiten später
sticht es doch in den Fersen, auf Seite 133 ist Schluss, „ich fühle
hyperreale Finger, die in mir rumstochern (wie kamen die in meinen
Arsch?)“.
Dauer: 38 Minuten, 18 Sekunden. Die Fersen kribbeln, nachdem ich mich
wieder gesetzt habe.
## Im Gehen
Typische Orte: Großstädte
Theorie: „Er konnte im Gehen ein Buch lesen und er that es oft. Er gewann
dadurch Zeit“, so beschrieb es Phebe Ann Hanaford 1918 in ihrer Biografie
„Abraham Lincoln: Sein Leben und seine Öffentlichen Dienste“. Junge
Menschen, die im Gehen lesen, das Werk mit nur einer Hand vor der Nase, oft
ist es ein Reclam-Heft: Die Buchwissenschaftlerin Ute Schneider von der Uni
Mainz erinnert sich allenfalls aus ihrer eigenen Studienzeit, den 80ern, an
sie – in Berlin sind sie aber nach wie vor zu beobachten, irgendwo zwischen
Neukölln und dem Institut für Kulturwissenschaften. „Lesen in der
Öffentlichkeit ist eine Form von Exhibitionismus“, zitiert Ute Schneider da
einen Kollegen. Immerhin: Dem Orthopäden müsste das Lesen im Gehen gut
gefallen, schließlich bin ich so immer in Bewegung.
Praxis: Seite 133 „… und wenn ich ‚die Hinteren‘ höre, dann schau ich
runter an mir und sehe Hinterbeine“, ich gehe vor die Haustür und laufe
los, nach zwei Seiten gehen die Schnürsenkel auf. Ich binde sie, gehe
weiter. Die Zeilen springen nach jedem Mal Aufschauen. Dann blicke ich
meist in die Gesichter der Passierenden, sie ziehen die Augenbrauen hoch.
Es fühlt sich peinlich an. Auf Seite 141 gebe ich auf: „meaty dick, seine
Dusche, sein Küchentisch, sein Wasserbett, schreit HMPPPFJAJAJA“.
Dauer: 17 Minuten, 51 Sekunden. So langsam war ich noch nie.
## Auf dem Rücken liegend
Typischer Ort: Bett
Theorie: Im Bett also. Ausgerechnet am heimeligsten Ort eröffnet das Buch
andere Welten am effektivsten. Das hat Fallstricke und politisch ist es
auch. Im Pariser Bürgertum hat sich das Lesen im Bett so verbreitet, dass
sich der Pädagoge Jean-Baptiste La Salle 1703 zum Tadel gezwungen sah: „Es
ist zutiefst unsittlich und verderblich, im Bett müßig zu plaudern oder zu
tändeln. Tut es nicht gewissen Personen nach, die dort lesen und andere
Dinge treiben.“
Seiner Warnung zum Trotz wurde das Lesen im Bett mit der Zeit noch viel
populärer, erst recht ab der Erfindung der Argand-Lampe im 19. Jahrhundert.
Wobei die Mode-Magazine hier ordentlich Gender konstruiert haben, so
Buchwissenschaftlerin Ute Schneider: „Da lesen Frauen oft im Bett, und zwar
nackt; und Männer haben einen Hut auf, lesen Zeitung und sitzen auf der
Parkbank.“
Praxis: Start Seite 141: „SLYTHERIN SLUT, 29, Franzose“ Ich liege flach,
meine Beine sind überschlagen, mein Kopf auf einem Kissen. Ich habe ein
Doppelkinn, das ist erstmal sehr gemütlich. Das Buch steht auf dem Bauch.
Bei jedem Seitenende hebe ich es leicht, damit ich durch den Brillenrand
auch die unteren Zeilen lesen kann. Nach 30 Seiten machen sich die
Halswirbel bemerkbar, neun Seiten später dann der dringliche Wunsch, den
Hals in alle Richtungen zu bewegen, nur nicht zum Doppelkinn hin. Seite
180, „ich bin eine gute Erde“.
Dauer: 54 Minuten,
48 Sekunden.
## Auf dem Bauch liegend
Typischer Ort: Bett, Teppich, Liegewiese
Theorie: Diese Haltung gibt gleich eine
Mit-Taschenlampe-unter-der-Decke-Atmosphäre. Der Orthopäde Bernd Kladny
sagt, der Großteil der Wirbelsäule dürfte dabei gerade sein, aber die
Halswirbelsäule werde dabei nach hinten geknickt – das belaste in dem
Bereich besonders die Gelenke. Im schlimmsten Fall könne so eine Haltung
zur „hypomobilen segmentalen Dysfunktion“ führen. Oder anders gesagt: Ein
Wirbel blockiert.
Praxis: Seite 180, „Ich sitze neben dir, Grossmeer“ Nach 12 Seiten schläft
der rechte kleine Finger ein, dann geht es Finger für Finger weiter. Kurz
darauf verkrampfen die Schulterblätter, die wie ein Zeltdach über das Buch
ragen. Auf Seite 201 ist Schluss: „Erektionsprobleme? Bankgeheimnis.“
Dauer: 28 Minuten,
13 Sekunden.
## Auf der Seite liegend
Typischer Ort: Bett
Theorie: Urgemütlich, aber irgendein Körperteil wird schnell einschlafen,
vermute ich.
Praxis: Seite 201: „Wenn nicht geschwiegen wurde, spürten die
Prostituierten rasch, wie der Karren läuft.“ Ich liege wie ein krummer
Embryo, den Unterarm auf dem Bett, nach 6 Seiten zieht die Schulter. Ich
lege mein Kinn in meine Hand, kurz darauf tut mein Handgelenk weh. Seite
222: „Die Arbeit war ganz delektabel.“
Dauer: 27 Minuten,
58 Sekunden.
## Lesesessel, Chaiselongue, Sonnenliege
Typische Orte: Salon, Sonnendeck, [5][Sylt]
Theorie: Wenn Buchwissenschaftlerin Ute Schneider ihre Studierenden
losschickt, um Leute zu fragen, was Lesen für sie bedeutet, sei die Antwort
kaum „Arbeit am Schreibtisch“, sondern „schöne Literatur, die ich in mei…
Lieblingssessel lese“. Am besten mit Katze am Fuß, Hauptsache
Gemütlichkeit. Ihre Sitzposition eint Lesesessel mit einigen Liegen: nicht
sitzen, nicht flach liegen, irgendwas dazwischen. Pioniere dieser Haltung
sind die griechische Kline sowie der römische Lectus, vergleichbar mit
einer Chaiselongue.
Der simple Strandstuhl, klassisch klappbar aus Holz, kommt ab Mitte des 19.
Jahrhunderts zum Einsatz, etwa auf dem Deck von Ozeankreuzern, zur selben
Zeit, als auch das Freizeit-Lesen zur Mode wird. Am Strand lesen sei jedoch
eine schlechte Idee, meint die Schriftstellerin Marguerite Duras: „Man kann
nicht bei zwei Lichtern gleichzeitig lesen, dem Licht des Tages und dem
Licht des Buches. Man sollte bei elektrischem Licht lesen, den Raum im
Dunkeln, und nur die Seite beleuchtet.“
Praxis: Seite 222 „Iras jüngste Schwester …“ Lange traumhaft. Nach 25
Seiten werden meine Beine restless, ich schwinge meine Knie hin und her und
in der Mitte zusammen. Vor Gemütlichkeit rutsche ich immer weiter im Sessel
runter, stemme mich nach 50 Seiten wieder hoch. Der Roman endet auf Seite
298: „streaming, rooting, flowing“.
Dauer: 1 Stunde, 59 Minuten,
8 Sekunden. Ich hätte länger im Sessel bleiben können.
23 Apr 2023
## LINKS
[1] /!p4643/
[2] /Debuetroman-von-Kim-de-lHorizon/!5882747
[3] /Oeko/Arbeit/!p4629/
[4] /Hausbesuch/!t5021906
[5] /Sylt/!t5020856
## AUTOREN
Fabian Stark
## TAGS
IG
Buch
Bücher
Haltung
Schwerpunkt Leipziger Buchmesse 2025
Kritik
Lesestück Recherche und Reportage
Unterschicht
Schwerpunkt Stadtland
Bauhaus
## ARTIKEL ZUM THEMA
Lesefrust durch dicke Bücher: Prinzipien der Wälzer
Die Begeisterung für Literatur bleibt in manchem dicken Buch stecken.
Weniger kann da einen Gewinn an Leselust bedeuten. Ein Essay.
Leipziger Buchmesse: Alles fürs Buch
Endlich wieder Buchmesse in Leipzig! Aber wer sind die Menschen im
Hintergrund, die mit viel Leidenschaft und oft niedrigen Löhnen Bücher
machen? Wir haben einige von ihnen getroffen.
Debütroman von Marlen Hobrack: Lesen im Leopardenlook
Alte weiße Männer mag keiner mehr lesen, eine weibliche
Aufsteigerinnengeschichte schon. „Schrödingers Grrrl“ folgt einer
literarischen Hochstaplerin.
Über die Dinge des alltäglichen Lebens: Möbel mit einem Herz aus Spanplatte
Was sagen Einrichtungsgegenstände, Bekleidung, Schmuck schon aus über eine
Person? Alles und nichts. Über die Bedeutung von Dingen, die uns umgeben.
Symposium im Mies van der Rohe Haus: Wie man sich bettet, so liegt man
Eigentlich wollte man ja gleich schweben, als man erst mal saß. Ein
Symposium ging der Frage nach dem Sitzen und Liegen in der Moderne nach.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.