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# taz.de -- Lesefrust durch dicke Bücher: Prinzipien der Wälzer
> Die Begeisterung für Literatur bleibt in manchem dicken Buch stecken.
> Weniger kann da einen Gewinn an Leselust bedeuten. Ein Essay.
Bild: In überlangen Büchern versandet man oft
Bei der Lektüre neu erschienener Bücher, egal ob Sachbuch oder
Belletristik, muss ich manchmal an das gute Besteck meiner Mutter denken.
Es stammt von einer klangvollen Marke und ist für die höheren Anlässe
gedacht, und diese besondere Wertigkeit schlägt sich im Erscheinungsbild
nieder.
Die Griffe von Gabel und Löffel sind breiter und dicker, der Griff des
Messers nicht einfach flach, sondern viel voluminöser, damit das Besteck
die Hände, von denen es gehalten wird, besser ausfüllt. Außerdem ist es
weit schwerer als das Essgerät, was mir üblicherweise in die Hände kommt.
Sein Wert drückt sich aus in Volumen und Gewicht.
Nun zeigt dieses gute Besteck nach einiger Zeit des Gebrauchs aber einen
Mangel. Über die Jahre hat sich im Innern von manchem voluminösen
Messergriff etwas gelöst, nämlich ein billiges Stück Metall, das dem
glänzenden Hohlkörper sein Gewicht verleiht. Es klimpert nun herum bei
jedem Happen, den man von der Bratenscheibe schneidet. Erst dieses störende
Klimpern offenbart, dass sich das gute, weil schwere Besteck von dem
leichten bloß unterscheidet durch seinen Ballast und seine Hohlkörper.
Und manchmal erscheint es mir auch so bei neu erschienenen Sachbüchern und
belletristischen Werken. Dann sehne ich mich nach dem leichten Besteck, bei
dem die Gabeln nicht mit weniger Zinken stachen und das Messer vielleicht
sogar etwas schärfer schnitt.
Dies gilt nicht pauschal für jedes gute Besteck und alle dicken Bücher,
denn selbstverständlich gibt es viele unter ihnen, die massiv gefertigt
sind, durchgehend aus bestem Material, aber allzu oft gerät man an Bücher,
von denen man rasch den Eindruck gewinnt, dass sie weit kürzer weit besser
gewesen wären. Ich lese selten ein Buch, bei dem ich nicht während der
Lektüre das Gefühl habe, dass ganze Absätze, Seiten, Kapitel gestrichen
gehören, weil sie redundant sind, geschwätzig, banal oder einfach so
schwach, dass sie dem übrigen Text schaden.
## Das Lesezeichen wie festgetackert
Und während erstaunlich viele Rezensentinnen und Rezensenten kaum ein
Problem mit diesem Ärgernis haben, es immer wieder Buchbesprechungen zu
lesen und hören gibt, die in großem Lob münden und nur als kleinen Haken
anmerken, dass das Buch zweihundert Seiten kürzer hätte sein müssen, ist
für mich die Überlänge vieler Bücher die Hauptquelle meiner
Lesefrustration, der Hauptgrund, warum ich weit weniger Bücher anfange
und noch weniger zu Ende lese, als ich es mir eigentlich wünschen würde.
Und auch im Gespräch mit Freunden und Bekannten, bei denen Bücherlesen
nicht zum Beruf gehört, höre ich immer wieder, dass sie in einem Buch nicht
vorankämen, irgendwo in dessen Längen versandet seien – das Lesezeichen wie
festgetackert – und deshalb auch kein weiteres läsen.
Freud hat sich zumindest noch entschuldigt. „Am Ende eines solchen Weges
angelangt, muss der Autor seine Leser um Entschuldigung bitten, dass er
ihnen kein geschickter Führer gewesen, ihnen das Erlebnis öder Strecken und
beschwerlicher Umwege nicht erspart hat. Es ist kein Zweifel, dass man es
besser machen kann.“ So beginnt das Abschlusskapitel vom „Unbehagen in der
Kultur“, einem klein gehaltenen Buch. Heute entschuldigt sich niemand mehr
dafür auszuufern, im Gegenteil, wer sich kurzfasst, ist verdächtig.
## Kunstvolle Kürze versus Volumen
„People love short books!“, versicherte mir ein Professor aus Cambridge und
brillanter Buchautor, als er mich dazu ermunterte, aus meiner Doktorarbeit
ein Sachbuch zu machen. Viele Jahre zuvor, als ich aus einer Hausarbeit
einen wissenschaftlichen Artikel machen wollte, antwortete mir der
betreuende deutsche Professor auf meine Frage, was dem Manuskript denn noch
fehle, mit: „Volumen.“ Dieser knappe Kulturvergleich zeigt schon an, dass
die Wertschätzungsnormen des deutschsprachigen Raums das kunstvoll kurze
Buch nicht gerade begünstigen.
Schon Walter Benjamin gab in der „Einbahnstraße“, einem eindeutig kurzen
Buch von 1928, ironische Tipps für „die Kunst, dicke Bücher zu machen“.
Nummer vier: „Für Begriffe, über die nur in ihrer allgemeinen Bedeutung
gehandelt wird, sind Beispiele zu geben: wo etwa von Maschinen die Rede
ist, sind alle Arten derselben aufzuzählen.“ Nummer fünf: „Alles, was a
priori von einem Objekt feststeht, ist durch eine Fülle von Beispielen zu
erhärten.“ Nummer sechs: „Zusammenhänge, die graphisch darstellbar sind,
müssen in Worten ausgeführt werden. Statt etwa einen Stammbaum zu zeichnen,
sind alle Verwandtschaftsverhältnisse abzuschildern und zu beschreiben.“
Zu den von Walter Benjamin versammelten schriftstellerischen Unarten kommen
heutzutage noch ganz handfeste Gründe für dicke Bücher, denn in vielerlei
Hinsicht belohnen die Arbeits- und Anreizstrukturen nicht Dichtung, sondern
Blähung. So ist dank Textverarbeitungsprogrammen der Umstand des
Schreibens von Hand weitgehend verloren gegangen.
Während ein Satz früher bei jedem Abschreiben auf die Probe gestellt wurde,
ob er die Mühen der Hand rechtfertigt, in Vorwegnahme der möglichen Mühen
von Leserin und Leser, wird heute jeder Satz in Word leicht kopiert und
verschoben, und Überwindung kostet es einzig noch, ihn zu löschen. Das
Schreiben wird so dem Lesen fremd, die Bücher werden dick, die Lektüre
langweilig.
## Zur Entsorgung bestimmter Aushub
Wo früher Trägheit Kürze begründete, ist sie heute mit Länge verbunden. Der
Autor und die Autorin ersparen sich die Mühe, streng mit sich selbst zu
sein, die narzisstische Kränkung, sich einzugestehen, dass das meiste
Geschriebene bloß der zur Entsorgung bestimmte Aushub ist, der bei der
Grabung nach Wertvollem anfällt.
Dieses Phänomen glaube ich besonders bei erfolgreichen Sachbuchautoren zu
beobachten, dass nämlich ihre Bücher mit fortschreitender Karriere bei
gleich bleibender Inhaltsmenge immer dicker werden oder aber bei gleichem
Umfang immer mehr an Dichte einbüßen. Aber auch die Seitenzahl der
[1][Harry-Potter-Romane steigt streng monoton bis zum „Orden des Phönix“] …
bei gleichzeitiger Abnahme des Unterhaltungswerts, wie mir aus
vertrauenswürdiger Quelle versichert wurde.
Ein Buch mit diesem Namen drauf verkauft sich sowieso, und man will
Bestseller-Autor und -Autorin auch nicht durch zu rabiates Kürzen erzürnen.
Und dann ist da natürlich noch die Fixierung auf den Roman als angeblich
einzig verkäufliche Form. Dabei wären viele langweilige Romane womöglich
[2][kurzweilige Novellen] geworden (oder sind es sogar in einem früheren
Stadium gewesen), und auch eine Kurzgeschichte wäre ja keine Schande. Oder
um ein Phänomen der letzten Jahre hinzuzunehmen: Selbst ein knappes
Sachbuch kann viel zu lang sein, wenn es besser nur ein Blogeintrag oder,
schlimmer noch, ein Tweet geblieben wäre.
## Schwere Kost mit reichlich Zellstoffmasse
Obendrein hat man mit dicken Schinken bei der Kritik mitunter einen Stein
im Brett. Wenn eine Neuerscheinung als „Schmaler Band“ bezeichnet wird,
dann soll die naheliegende Abwertung metaphorisch mitschwingen: Das dünne
Werk ist durchschaubar und oberflächlich, die Tiefe geht ihm ab, es ist ein
Leichtgewicht, dessen Autorin oder Autor die Mühen eines schweren,
umfangreicheren Werkes gescheut hat. Ein umfangreiches Buch ist hingegen
schnell ein gewichtiges Werk. „Monumental!“, tönt es verlässlich aus den
Kritiken.
Selten reagieren Kritikerinnen und Kritiker spontan wie der im Liegestuhl
ruhende [3][Vitali Klitschko] in der alten Milchschnitte-Werbung, als ihm
von seinem Bruder ein dicker Band auf den Bauch geworfen wird: „Schwere
Kost!“ Und das gilt nicht nur für die Belletristik, auch die
Gegenwartsdiagnose eines Soziologen oder die Epochendarstellung einer
Historikerin müssen zur ziegelsteinschweren Untermauerung der Ambition
natürlich reichlich Zellstoffmasse auf die Waage bringen.
Vielleicht ist dabei auch zu bedenken, dass die meisten Bücher verschenkt
werden. Mit einem umfangreichen Werk, vom Buchhändler als Geschenk
verpackt, kommuniziert man den eigenen Anspruch, die gewichtige
Wertschätzung für den Empfänger, und muss gleichzeitig nicht fürchten,
seine eigene Zeit an einen hemmungslos ausufernden Text zu verschwenden.
## Überflüssige Textsümpfe trockenlegen
„Schon ausgelesen, wann kommt das nächste?“, ist doch der Ausruf, den sich
Autor, Händlerin und Verlag von Leserinnen und Lesern wünschen sollten,
statt: „Hab’s angefangen. Hab’s rumliegen. Bin noch nicht durch.“ Nicht…
für den individuellen Erfolg, sondern für die ganze Branche könnte das
förderlich sein: Die erwähnten Bekannten und Freunde, die in einer zähen
Passage eines dicken Buches feststecken, würden viel eher zum neuen und
nächsten Buch greifen, wenn alle überflüssigen Textsümpfe trockengelegt
würden, die den Weg durch das Buch behindern.
Und um nicht falsch verstanden zu werden: Es soll nicht darum gehen, die
schöne Literatur auf höhere Handlungsschlagzahl zu tunen, mehr Action und
mehr Drama in eine Geschichte zu packen, sondern darum, zu erkennen, wo
eine Prosa leerläuft, und wo sie mit Reflexion, Beobachtung, Fantasterei,
Stimmung und Klarheit gesättigt und für Leserinnen und Leser lohnend ist.
Zu viele Bücher erscheinen heute in einer Form wie die frittierten
Garnelen, die ich mal am Schwarzen Meer bestellt hatte. Sie rochen gut,
weckten von außen den Appetit, doch unter der Panade hatten sie Köpfe und
Beine und Schale.
Der Koch war faul gewesen und ich musste fummeln und pulen, gab bald auf
und kam nie wieder. Er hat einen Kunden verloren. Genauso ist es mit den
allzu dicken Büchern dieser Tage, nur dass man sich an ihnen nicht die
Finger fettig macht.
5 Aug 2023
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## AUTOREN
Leander Steinkopf
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