| # taz.de -- Philipp Oehmkes Roman „Schönwald“: Einmal Jonathan Franzen sein | |
| > Philipp Oehmke will den großen amerikanischen Familienroman für deutsche | |
| > Verhältnisse schreiben. Dabei laviert er am Rande der Glaubwürdigkeit. | |
| Bild: Für den Zivilisationsbruch hat der Roman von Oehmke nur ein erleichterte… | |
| Vor zwei Jahren erregte die Eröffnung einer Neuköllner Buchhandlung die | |
| Gemüter. Aktivisten warfen der Betreiberin Emilia von Senger vor, ihren | |
| Laden mit dem Erbe eines zu Zeiten des Nationalsozialismus erwirtschafteten | |
| Vermögens finanziert zu haben. Tatsächlich dienten von Sengers Großvater | |
| und Urgroßvater als Offiziere im Zweiten Weltkrieg. Mithin erklärten ihre | |
| Kritiker sie zu einem [1][„Menschen mit Nazihintergrund“.] | |
| Philipp Oehmke nimmt den Fall nun zum Ausgangspunkt seines Debütromans | |
| „Schönwald“. Zu Beginn wirft hier eine Gruppe Demonstranten Farbbeutel | |
| gegen die Fensterscheibe des Ladens „They/Them“. Drinnen feiern die ersten | |
| Kunden, auch die Familie der queerfeministischen Buchhändlerin Karolin | |
| Schönwald ist versammelt. | |
| Da wäre ihre Mutter Ruth, eine Thomas-Mann-Expertin, deren akademische | |
| Karriere an ihrer Rolle als Hausfrau scheiterte. Eisern wacht sie über die | |
| Ihrigen, ist vor allem darauf bedacht, dass niemand Licht in die dunklen | |
| Flecken der Familiengeschichte bringt. Gatte Harry hat sich unbemerkt von | |
| ihr jüngst auf Abwege begeben. Der joviale Staatsanwalt a. D. hat eine | |
| Therapie begonnen, um sich seiner Lebensbilanz zu vergewissern. | |
| Auch Benni, Karolins jüngerer Bruder, steckt in der Krise. Nach einem eilig | |
| abgeschlossenen Studium und einer nur knapp überstandenen Typhuserkrankung | |
| verlor er jeden beruflichen Ehrgeiz. Seit Jahren arbeitet er an einem | |
| mathematischen Beweis, vor allem aber daran, die Beziehung mit der | |
| sozialphobischen Emilia zu retten, was ihm – hochintelligent, aber impulsiv | |
| und zwanghaft – nicht so recht gelingen mag. | |
| Einen MeToo-Skandal gibt es auch | |
| Und dann wäre da noch Chris, das älteste Geschwisterkind. Bis vor Kurzem | |
| noch Starprofessor in New York, ist er infolge eines MeToo-Skandals von der | |
| Universität geflogen und auf der dunklen Seite der Macht gelandet. Als | |
| Adept Donald Trumps giert er nun nach Applaus in rechten Kreisen und hofft | |
| zugleich darauf, dass in der Heimat niemand etwas von seinem Absturz | |
| erfährt. | |
| Der aktivistische Angriff kommt den einzelnen Schönwalds zunächst durchaus | |
| gelegen, sorgt er doch für die nötige Ablenkung von eigenen Fehltritten. | |
| Doch natürlich reißt die Beschäftigung mit der Vergangenheit in dieser so | |
| sehr auf Konfliktvermeidung ausgerichteten Familie bald alte Wunden auf. | |
| Der Autor Philipp Oehmke hat eine Biografie der Toten Hosen geschrieben und | |
| war lange als Korrespondent des Nachrichtenmagazins Der Spiegel in New York | |
| tätig. Von dort mitgebracht hat er eine Vorliebe für Familienromane. In | |
| einem Begleittext des Verlags beklagt er mit einem gewissen Hang zum | |
| Größenwahn, dass dieses Genre in der deutschen Literatur seit Thomas Mann | |
| brachliege. Man ist erleichtert, dass er sich nicht die Buddenbrooks zum | |
| Vorbild genommen hat, allerdings nur kurz, denn auch mit der Liste seiner | |
| erklärten Idole – von John Updike über Philip Roth bis Jonathan Franzen – | |
| hängt die Latte ziemlich hoch. | |
| Besonders [2][Franzens Einfluss auf „Schönwald“] ist deutlich erkennbar. | |
| Wie in dessen Weltbestsellern „Die Korrekturen“ oder „Crossroads“ erzä… | |
| Oehmke von einer Mittelschichtsfamilie, widmet sich eingehend jeder | |
| Hauptfigur, springt zwischen Gegenwart und Vergangenheit, beleuchtet | |
| Konflikte von verschiedenen Seiten. So sollen nicht nur die Figuren, so | |
| soll auch die Gesellschaft, in der diese leben, charakterisiert werden. | |
| Denn natürlich geht es bei Franzen nur vordergründig um die Nöte einiger | |
| Durchschnittstypen. Ihre Probleme sind immer rückführbar auf die | |
| historischen Ereignisse und Dynamiken, denen sie unterworfen sind. | |
| Letztlich ist ein literarisches Panorama der ganzen Gesellschaft das Ziel, | |
| ein Roman zur Lage der Nation. | |
| Zwischen Kopie und unfreiwilliger Satire | |
| Oehmke will also „the great american novel“ in den deutschen | |
| Literaturbetrieb importieren, was ein respektables Unternehmen ist oder | |
| besser: wäre, denn es misslingt gründlich. In den besseren Passagen liest | |
| sich sein Buch tatsächlich wie eine Franzen-Kopie, in den schwächeren wie | |
| eine unfreiwillige Satire auf das Original. | |
| Vor allem die Nebenfiguren sind völlig überzeichnet. Der Schwiegervater des | |
| jüngsten Sohns ist ein hedonistischer Milliardär, der ständig von seinem | |
| Kumpel Elon erzählt. Chris’ schrille Partnerin hält Donald Trump wegen | |
| eines schweren Vaterkomplexes die Treue. Und die Aktivistin Malala macht | |
| nur so lange Stimmung gegen die Schönwalds, bis sie der erotischen | |
| Anziehungskraft des Altright-Paars verfällt. | |
| Auch die Handlung laviert am Rande der Glaubwürdigkeit. Dass die Nachricht | |
| von Chris’ MeToo-Skandal nicht bis nach Berlin gedrungen ist, mag man noch | |
| hinnehmen. Dass Bennis Ehe daran zu zerbrechen droht, dass er seine Familie | |
| gegen den Willen der Gattin zum Grillen einlädt, schluckt man mit | |
| Widerwillen. Aber dass der erfahrene Staatsanwalt Harry weder vom | |
| jahrelangen Doppelleben seiner Ehefrau noch vom Missbrauch seiner Tochter | |
| etwas mitbekommen haben soll, ist dann doch etwas zu viel des Guten. | |
| Man muss Oehmke gegen den eigenen Anspruch in Schutz nehmen. Er schreibt | |
| vielleicht entfernt wie Franzen, beherrscht sein Material aber um Längen | |
| nicht so souverän. Das allein wäre noch kein größeres Problem, unterhält | |
| der Roman doch über 500 Seiten lang durchaus solide. Geradezu ärgerlich ist | |
| aber die Verhandlung deutscher Geschichte und deutscher Schuld. | |
| „Never complain, never explain“ | |
| Kern aller Probleme dieser Familie ist ihr Umgang mit Konflikten. Sie | |
| sprechen nicht über ihre Nöte und Fehler, schweigen sie tot, bis sie von | |
| ihnen übermannt werden. Es liegt beinahe klischiert nahe, dieses Unvermögen | |
| mit einer Verstrickung in die Verbrechen des Nationalsozialismus zu | |
| erklären. Aber nichts da! Mutter Ruth erinnert sich an einer Stelle, wie | |
| ihr Wehrmachtsvater immer das Familienmotto „Never complain, never explain“ | |
| vor sich hertrug. Schon immer habe man sich an diesen Wahlspruch gehalten. | |
| Aha, so ist das also! Kein deutsches Erbe, nichts mit Krieg, nichts mit | |
| Juden liegt hier vor, sie leben und leiden einfach traditionell auf diese | |
| feine und sogar englische Art. | |
| Wenn „Schönwald“ ein Spiegel der heutigen Gesellschaft sein will, dann | |
| zeigt er ein Deutschland, dass Umfragen zufolge in großen Teilen am | |
| liebsten einen Schlussstrich unter die Beschäftigung mit dem „Dritten | |
| Reich“ zöge. Die NS-Vergangenheit wird in diesem Roman geradezu frivol | |
| aufgerufen. Da ist keine Scheu, keine Scham geboten, taucht sie doch | |
| lediglich als Referenz auf, um diese auf wohlige Weise sogleich als nicht | |
| passend, als unschlüssig zu verwerfen. | |
| Ja, es gibt ihn auch hier, den notorischen Fund auf dem Dachboden, aber | |
| keine Beweise für Verbrechen entdeckt Karolin, sondern lediglich | |
| Liebesbriefe der Mutter an ihre Affäre. Das große Geheimnis der Familie hat | |
| ebenfalls nichts mit dem ollen Hitler zu tun, stattdessen geht es um eine | |
| verhängnisvolle Vernachlässigung der Aufsichtspflicht. Kurzum: Für den | |
| Zivilisationsbruch hat dieser Roman nur ein erleichtertes Schulterzucken | |
| übrig. | |
| Lange war es die vornehmste Aufgabe deutscher Belletristik, im Intimen und | |
| Persönlichen die Spuren der Gewalt aufzuspüren. Oehmke tritt nun gut | |
| gelaunt den Rückzug an, indem er Themen wie Schuld und Verantwortung | |
| einfach wieder privatisiert. Da wundert man sich dann auch nicht mehr | |
| darüber, dass die Aktivisten schließlich bereit sind, ihre Waffen zu | |
| strecken, vorausgesetzt Chris gesteht den Eltern und Geschwistern, seinen | |
| Job verloren zu haben. Selbst die superwoken Unruhestifter sehen hier ein, | |
| dass diese dumme Sache mit den Großeltern und den Nazis doch letztlich eine | |
| Familienangelegenheit ist. | |
| Eines muss man diesem Roman lassen. So etwas Reaktionäres gab es lange | |
| nicht zu lesen. | |
| 14 Aug 2023 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Kuenstler-ueber-NS-Familiengeschichte/!5755176 | |
| [2] /Jonathan-Franzen-Portrait-auf-Arte/!5092279 | |
| ## AUTOREN | |
| Michael Wolf | |
| ## TAGS | |
| Buch | |
| Roman | |
| Familiengeschichte | |
| deutsche Literatur | |
| Digital Natives | |
| Kritik | |
| wochentaz | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Erzählungsband „Belohnungssystem“: Neuverschaltet im Digitalozän | |
| Jem Calder beschreibt das Liebes- und Lebensleiden der Digital Natives. In | |
| „Belohnungssystem“ blickt er kühl auf das, was junge Erwachsene antreibt. | |
| Lesefrust durch dicke Bücher: Prinzipien der Wälzer | |
| Die Begeisterung für Literatur bleibt in manchem dicken Buch stecken. | |
| Weniger kann da einen Gewinn an Leselust bedeuten. Ein Essay. | |
| Caroline Schmitt „Liebewesen“: Welten krachen gegeneinander | |
| Caroline Schmitt beschreibt in ihrem Debütroman ein Paar mit allzu | |
| verschiedenen Prägungen. Eines, das gar nicht zueinander finden kann. |