# taz.de -- Caroline Schmitt „Liebewesen“: Welten krachen gegeneinander | |
> Caroline Schmitt beschreibt in ihrem Debütroman ein Paar mit allzu | |
> verschiedenen Prägungen. Eines, das gar nicht zueinander finden kann. | |
Bild: Schriftstellerin Caroline Schmitt | |
Lio und Max lernen sich über eine Datingapp kennen, eher unfreiwillig durch | |
Freunde initiiert, die genug haben vom traurigen Singledasein des | |
Gegenübers. Lieben lernen sie sich sehr unverbindlich, langsam, sich | |
gegenseitig abwechselnd mit dem Wunsch nach mehr Bindung oder mehr | |
Freiheit, wie zwei Autos, die alternierend beschleunigen und bremsen und so | |
nie gleichzeitig ankommen. | |
So weit, so zeitgenössisch ist dieses Paar, um das sich Caroline Schmitts | |
Debütroman „Liebewesen“ aufbaut. Die Schreibweise, die Lios Perspektive | |
einnimmt, seziert präzise das Innenleben einer jungen Frau, die sich selbst | |
fremd ist: Lio fühlt sich „abwechselnd wie ein Roboter und wie ein Tier, | |
das gerade geboren wurde und sich sofort verteidigen musste, aber nicht | |
wusste, wie“, wenn sie versucht, mit Max körperliche Nähe herzustellen. | |
Sie konnte weder die Gewaltausbrüche ihrer Mutter aufarbeiten, denen sie | |
ohnmächtig ausgeliefert war, noch Worte für die Vergewaltigung finden, die | |
sie auf einem Dorffest in ihrem Heimatort erlitten hat. Lio erträgt | |
Körperlichkeit, anstatt sie genießen zu können. Mit Max ist es für sie | |
nicht am schönsten, sondern am wenigsten schlimm. | |
## Mädchen aus der Provinz | |
Schmitt schildert unaufdringlich und nie plakativ, was es bedeutet, wenn | |
innerhalb einer Beziehung soziale Milieus aufeinanderprallen. Sie ist das | |
fleißige, hochintelligente Mädchen aus der Provinz mit Eltern, die zu wenig | |
hatten, aber nie nach mehr fragen würden, und empfindet ihr Studium als | |
„schwer zu fassendes, oft unerträglich großes Glück“. | |
Er ist faul und unorganisiert, aber charmant und, nun ja, männlich: „Weil | |
Männer nicht mit ansehen können, dass andere Männer ihr Potential nicht | |
voll ausschöpfen, ist die Welt so, wie sie ist.“ | |
Max geht mit einer Leichtigkeit und Eloquenz durchs Leben, die Menschen | |
seines Milieus gemeinsam mit dem schwarzen Cabrio zur Volljährigkeit | |
geschenkt bekommen. Lio dagegen ist die erste Akademikerin ihrer Familie. | |
Sie hat eine einzige Chance, er unendlich viele Freiversuche. Als „obszön“ | |
empfindet Lio die „schnoddrige Selbstverständlichkeit, mit der Max Luxus | |
aufaß oder wegtrank“. | |
In Lios Verhältnis zu ihrem Vater skizziert Schmitt die wortlose Liebe, die | |
zwischen Eltern und Kind herrscht, wenn beide zu verschieden sind, um in | |
derselben Sprache miteinander sprechen zu können („Die Liebe steckte in | |
meinem ‚Wie geht es den Himbeeren?‘ und dem ‚Oh nein‘, wenn er schrieb, | |
dass das Ungeziefer in diesem Jahr besonders aggressiv sei“), und eine | |
Elternfigur, die eigentlich nie da war und zu dem verklärt wird, was sie | |
hätte sein können. | |
## Schamgefühle | |
Die Verwirrung darüber, einen ganz anderen Partner gewählt und sich damit | |
offensiv gegen die eigene Herkunft gewendet zu haben, schmerzt Lio: „Vor | |
meinem Vater schämte ich mich für Max, vor Max schämte ich mich für meinen | |
Vater.“ So wird der menschenunwürdige Tod des Vaters, der „reichen Leuten | |
nicht passiert wäre“, zum weiteren Beweis für die unüberwindbare Kluft, die | |
zwischen Lios und Max’ Herkunft herrscht: Max bezahlt das Hotel, als das | |
Paar den Verstorbenen besucht, in ihrer Trauer aber bleibt Lio völlig | |
isoliert. | |
Dass Lios Abtreibung schließlich mit sehr ähnlichen Worten beschrieben wird | |
wie Jahrzehnte zuvor in [1][Annie Ernaux’ „Das Ereigni]s“, lässt den | |
verstörenden Eindruck zurück, dass die inzwischen einfacheren Umstände | |
nicht immer weniger Leid bedeuten. Lio kann zum ersten Mal echte Ruhe | |
empfinden, als sie über das ungeborene Leben in ihrem Bauch streicht, und | |
sieht sich dennoch nicht in der Lage, das Verhalten ihrer Eltern nicht zu | |
wiederholen: „Wie konnte irgendjemand, der dort aufgewachsen war, wo ich | |
herkam, guten Gewissens Kinder bekommen?“ | |
Mit ihrem Debütroman malt Schmitt beide Parteien einer Liebe mit langem | |
Ende so, dass die Schuldfrage ungeklärt und irrelevant bleibt. Lio und Max | |
sind Resultate ihrer Biografien. Als Paar allerdings, und das ist wohl das | |
tragischste Fazit einer Liebesgeschichte, sind sie nicht lebensfähig. | |
„Vielleicht krachen nicht wir gegeneinander, sondern die Welten, aus denen | |
wir kommen“, lässt Schmitt Max sagen. „Liebewesen“ behandelt eine | |
Lebensphase, in der entschieden werden muss, wie sehr Kindheitsprägungen | |
das selbstgewählte Leben einfärben sollen, und endet mit der Vermutung, | |
dass man auch Erwachsensein üben muss, bevor es gelingt. | |
30 Jul 2023 | |
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[1] /Verfilmung-von-Ernaux-Roman/!5841808 | |
## AUTOREN | |
Marie-Sofia Trautmann | |
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