# taz.de -- Erzählungsband „Belohnungssystem“: Neuverschaltet im Digitaloz… | |
> Jem Calder beschreibt das Liebes- und Lebensleiden der Digital Natives. | |
> In „Belohnungssystem“ blickt er kühl auf das, was junge Erwachsene | |
> antreibt. | |
Bild: In der zunehmend durchalgorithmisierten Welt schwinden die Handlungsoptio… | |
Neurophysiologisch funktioniert eine Smartphone-Sucht genauso wie eine | |
Drogensucht. Um mit der explodierenden Dopaminausschüttung klarzukommen, | |
die die jeweilige Nutzung im Körper verursacht, muss das Gehirn sein | |
Belohnungssystem umbauen und die Rezeptoren drastisch vermehren. Kommt es | |
irgendwann zum Entzug, sterben all diese zusätzlichen Rezeptoren wieder ab: | |
„Und wenn das passiert … na ja, dann würde man am liebsten selber sterben.… | |
So berichtet es der einst opiatabhängige Chefkoch Ellery, eine Figur in Jem | |
Calders Erzählungsband „Belohnungssystem“, in dem der britische Autor | |
einige (vor allem junge) Menschen dabei beobachtet, wie sie mit der | |
Neuverschaltung ihrer Gehirne im digitalen Zeitalter zurechtkommen – oder | |
auch nicht. | |
Und doch beginnt der erste und längste der sich lose zu einem Roman | |
fügenden sechs Texte an einem der wenigen noch verbliebenen Orte, wo | |
Smartphones verboten sind: in der von Ellery geleiteten „paneuropäischen“ | |
Küche eines Nobelrestaurants (auch wenn der Küchenchef selbst sein Verbot | |
gerne mal missachtet). | |
Zugleich fungiert die „erzwungene Intimität des extrem beengten, extrem | |
temperierten Raums, in dem sie ihre körperlich extrem fordernden Jobs | |
ausübten“, als exakter Gegensatz zur kalten, körperlos-vereinzelnden Sphäre | |
der globalen digitalen Vernetzung, und Calder tut sein Bestes, uns diesen | |
physischen Raum bis in die biochemischen Details der gehobenen Kulinarik | |
plastisch werden zu lassen. | |
## Pech in der Liebe – und bei der Arbeit | |
Dabei wird auch deutlich, welche anderen „Belohnungssysteme“ in der | |
heutigen Welt nicht so ganz rund laufen: das der Lohnarbeit und das der | |
Liebe. Hauptfigur Julia, die ihre alte Stelle als Hilfsköchin wegen des | |
toxischen Arbeitsumfelds aufgegeben hat, gelingt mit dem Wechsel in Ellerys | |
Lokal zwar der Aufstieg zur zweiten Küchenchefin. | |
Und doch betrachtet sie ihre Arbeit nicht etwa als die Anwendung eigener | |
Fähigkeiten, sondern als die Nachahmung der Fähigkeiten anderer, von der | |
sie sich die bessere, „nächste Version ihrer selbst“ erhofft, die dann | |
möglichst wenig mit ihrem „eigentlichen Wesen einer Heulsuse, Jasagerin und | |
Sorgenkrämerin“ gemein haben soll. | |
Die Wirkweisen von Social Media bestimmen somit auch den handyfreien Raum, | |
wobei Julia aufgrund ihrer Arbeitszeiten zudem kaum noch Gelegenheit hat, | |
anderswo potenziellen Partnern zu begegnen – und sich daher in ihren | |
doppelt so alten Chef verliebt: „nicht der Typ Mann, auf den Julia sonst | |
stand – ja, vielleicht sogar eher der Typ Mann, dem sie sonst bewusst aus | |
dem Weg gehen würde“. | |
So nehmen die Dinge ihren Lauf. Und Julias Anspruch, ihr „Selbstbild nicht | |
von der Wahrnehmung der anderen verbiegen zu lassen“, steht auf wackligen | |
Beinen, solange sie selbst nur vage Versionen von sich zu simulieren | |
versucht. | |
## Das Rettende nicht in Sicht | |
Kaum gewandter sind die Protagonisten der anderen Erzählungen. Julias | |
Exfreund Nick, für den das Narrativ in die Ich-Perspektive wechselt, hat | |
sich nach zwei Jahren noch immer nicht von der Trennung erholt. Seine | |
schlecht bezahlte Arbeit als Werbetexter prokrastinierend, schafft er es | |
weder, an seinen eigenen Texten zu schreiben, noch den Kontakt zu seinen | |
alten Freunden zu halten. Und wenn er sie auf einer Party – die den | |
Hauptinhalt seiner Erzählung bildet – endlich einmal wieder trifft, ist er | |
sturzbesoffen. Schließlich zieht er mit 27 zurück zu seinen Eltern. | |
In einem weiteren längeren Text gegen Ende des Erzählungsbands erfahren | |
wir, dass es auch den besser bezahlten Kollegen in Nicks Agentur wenig | |
besser ergeht. Auch sie hängen noch im mittleren Alter hoffnungsvolleren | |
Versionen ihrer selbst nach, ohne sich diesen in der trägen Endzeitstimmung | |
ihres Bürodaseins auch nur annähern zu können. | |
Wo aber wächst das Rettende, wenn in der zunehmend durchalgorithmisierten | |
Welt die Handlungsoptionen schwinden, weil ein Übermaß an Optionen es kaum | |
noch zu echten Handlungen kommen lässt? In einem kurzen Text mit zwei | |
namenlosen Protagonist:innen beleuchtet Calder in einer | |
abstrahierenden, auf die technischen Details fokussierenden Sprache die | |
Mechanismen der Beziehungsanbahnung und -verhinderung einer | |
„algorithmusbasierten Dating-App“. | |
Wenn auch die letzte, während des Corona-Lockdowns angesiedelte Episode die | |
Technologie etwas mehr zu dem beziehungsstützenden Hilfsmittel werden | |
lässt, das sie sein sollte: Eigene Entscheidungen zu treffen – ebenso wie | |
das Handy zu ignorieren – bleibt kompliziert. | |
## Eine gewisse Deutungsarmut | |
Natürlich ist Jem Calder nicht der Erste, der die Liebes- und Lebensleiden | |
der Digital Natives beschreibt (so wird sein Buch etwa mit einem Lob | |
[1][der Kollegin Sally Rooney] beworben). Doch seine Darstellung ist | |
zugleich formal vielstimmiger wie diagnostisch einseitiger – und dadurch | |
perspektivisch düsterer. | |
Während Rooney in ihren Texten zunehmend auch theoretische Ansätze | |
entwickelt, mittels derer Figuren wie Leser sich reflexiv emanzipieren | |
können, steht Calders beeindruckender menschlicher wie technischer | |
Beobachtungsgabe (inklusive humoristischem und szenischem Talent) eine | |
gewisse Deutungsarmut gegenüber – die freilich auch programmatisch | |
verstanden werden kann. | |
Den kühl-observierenden Stil hat Jan Schönherr insgesamt gut ins Deutsche | |
gebracht, wenn auch nicht jeder der im Englischen funktionierenden | |
technologieoffenen Neologismen überzeugen kann. | |
Verrät die nüchterne Aussicht von „Belohnungssystem“ womöglich die | |
existenzielle Betroffenheit des äußerst begabten Debüt-Autors, darf man auf | |
sein weiteres Sich-Freischreiben mindestens ebenso gespannt sein. | |
7 Aug 2023 | |
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[1] /Roman-Schoene-Welt-wo-bist-du/!5796031 | |
## AUTOREN | |
Tom Wohlfarth | |
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