Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- US-Bestseller über die Millennials: Die erste Normcore-Intellektue…
> Jia Tolentino wird als feministisches Sprachrohr der Millennials
> gefeiert. Sie untersucht Strategien weiblicher (Selbst-) Inszenierung.
Bild: „Der Boom des persönlichen Essays ist vorbei“, sagt Tolentino
„Lebe wohl, Hope Hicks, ein Musterbeispiel für den schnellsten Weg nach
oben, den eine Frau in einer misogynen Welt gehen kann: Schweigsamkeit,
Schönheit und bedingungslose Fügsamkeit gegenüber Männern.“ Mit diesen
Worten kritisierte die Autorin Jia Tolentino die scheidende PR-Beraterin
von US-Präsident Trump [1][auf Twitter.]
In der Folge warf ihr die [2][New York Times ] Sexismus vor. Genau das, so
Tolentino, ist das Problem mit dem feministischen Mainstream: Wenn eine
Frau Sexismus für sich reklamiert, wird sie von Feminist*innen hofiert,
während die Attacken der Gegenseite zunehmen.
Im Echoraum der sozialen Medien werden Frauen reflexartig angefeindet und
bewundert zugleich. Über diesen Widerspruch schreibt Tolentino in ihrer
Debüt-Essaysammlung „Trick Mirror: Über das inszenierte Ich“. Wie lässt
sich das hypersichtbare Drama weiblicher Identität navigieren, ohne die
eigenen Social-Media-Kanäle zu löschen und aufs Land zu ziehen? Diese Frage
stellt die New-Yorker-Redakteurin in neun Essays, die von der „écriture
féminine“ übers Heiraten bis zur Finanzkrise reichen.
## Überperformance und Muschifurz
Wenn die Zeichen auf Selbstoptimierung stehen, kann die Überperformance für
Befriedigung sorgen. In „Optimierung ohne Ende“ erzählt Tolentino, warum
sie ihren Yoga-Kurs aufgibt, als ihrer Nachbarin beim Krieger II ein
„fetter, feuchter Muschifurz“ nach dem anderen entfährt. Der mittelbare
Kontrollverlust treibt sie zum „Pure Barre“, einem funktionalen
Fitnesstrend, bei dem Frauen Hunderte Male Ballettbewegungen ausführen, um
den Körper einer Ballerina nachzuformen.
„[D]ie Arbeit, die für diesen Körper nötig ist – das Ritual, die
Disziplin“, empfindet Tolentino als erotisch. Manchmal ist ein geschickt
vermarktetes Narrativ eben stärker als das Bewusstsein, dass „man sein
Leben von Gewohnheiten bestimmen lässt, die man selbst für lächerlich und
womöglich unvertretbar hält“. Die Unterwerfung unter eine sadistisch
strenge Fitness-Trainerin geht mit der Lust einher, das Ideal der durch
Schmerz gestählten Powerfrau zu erfüllen.
Wie problematische bis gewaltvolle Weiblichkeits-Erzählungen die
Urteilskraft von Frauen prägen, davon erzählt auch der Essay „Wir kommen
aus Old Virginia“. Er berichtet vom Umgang mit sexueller Gewalt an
Tolentinos Alma Mater, der University of Virginia (Charlottesville). Für
Aufsehen sorgte dort 2014 ein Rolling Stone-Artikel über eine mutmaßliche
Massenvergewaltigung durch Angehörige einer Studentenverbindung.
Als immer mehr Ungereimtheiten an der Berichterstattung aufkamen, zog die
Zeitschrift den Artikel zurück, später wurde sie vor Gericht zu einer
Millionenentschädigung verurteilt. Tolentinos nuancierter Darstellung
gelingt es, das Ausmaß sexueller Gewalt am Campus zu verdeutlichen und
gleichzeitig die Selbsttäuschung der Beteiligten zu kritisieren.
Sie belegt, wie sich die Universität jahrzehntelang aus der Verantwortung
zog – insbesondere wenn weiße Männer schwarze Frauen vergewaltigten. Die
Journalistin Sabrina Rubin Erdely ihrerseits „tat so, als sei die Story,
an die sie glaubte […], bereits wahr.“ Sie berichtete von einem Ereignis,
das sich so ähnlich täglich abspielt, und das trotzdem falsch ist. Und
machte aus der schrecklichen Banalität einer Vergewaltigung eine glatte
Titel-Story.
## Alles in eine Geschichte verwandeln
„Ich vergesse alles, was ich nicht in eine Geschichte verwandeln muss“,
bekennt auch Tolentino. „Ich mache mir jedoch auch darüber Sorgen, dass ich
womöglich vor allem an narrativer Beständigkeit interessiert bin.“ Die
Autorin, die sich ihre Sporen zunächst als Redakteurin woker feministischer
Onlinemedien wie The Hairpin und Jezebel verdient hat, ist sich der
Versuchung der shiny Oberfläche allzu bewusst. Dennoch tappt auch sie
bisweilen in die Falle, eine eingängige Geschichte zu erzählen.
Richtig langweilig ist „Trick Mirror“ da, wo sie Klischees über
Millennials („Die Geschichte einer Generation“) im Internet („Das Ich im
Internet“) droppt, „dieser fieberhaften, elektronischen, unerträglichen
Hölle“. Diese Art der Selbstvergewisserung ist nicht nur unterkomplex, sie
ist als allgemein gehaltene Gegenwartsthese auch schlecht gealtert.
Tolentino schrieb die abgedruckten Essays zwischen Frühjahr 2017 und Herbst
2018. Vielleicht ist diese Prä-Corona, Mid-Trump-Ära uns zugleich zu nah
und zu fern, als dass wir ihr gerade jetzt allzu viel abgewinnen könnten.
Viel stärker ist Tolentino ohnehin, wenn sie das Korsett erzählerischer
Konsistenz sprengt. Eine wahre Freude ist „Ecstasy“, ein Essay über ihr
Aufwachsen in Houston, Texas. Nahtlos wechselt sie darin zwischen
evangelikalen Megachurches und chemischen Drogen, der Autorin Simone Weil
und der Entstehung der DJ-Technik „chopped and screwed“.
Letztere klingt für Tolentino so wie das Hustensirup-induzierte „Lean-High“
„ein berauschendes, dissoziatives Gefühl von Sicherheit, als würde man sich
sehr langsam auf eine Erkenntnis zubewegen, die man nicht zu verstehen
braucht“.
## Klug und zweifelnd
In den besten Fällen entfaltet sich ein Tolentino-Essay genau so, im Wirbel
breitgefächerter Referenzen, kluger Beobachtungen und zweifelnder
Rückfragen, bis die Leserin, genau wie Tolentino selbst, nicht mehr weiß,
wo eigentlich oben und unten ist. Der titelgebende Trickspiegel hält „die
Illusion von Makellosigkeit als auch die Option der Selbstgeißelung“
bereit.
In den USA wurde „Trick Mirror“ nach dem Erscheinen 2019 ein Bestseller. Es
folgten Vergleiche mit den großen US-amerikanischen Essayistinnen Joan
Didion, Susan Sontag und Rebecca Solnit – sowie Verrisse gleichaltriger
Peers. Die Kritikerin Lauren Oyler beschrieb „Trick Mirror“ als
„hysterisch“ und „selbstzentriert“.
Dabei ist „Trick Mirror“ selbst da, wo es um Tolentinos eigene Erfahrungen
geht, bemerkenswert unintim. Schon 2017 verkündete sie: „Der Boom des
persönlichen Essays ist vorbei“. Ihre biografischen Verweise sind Tolentino
Hintergrund, nicht Gegenstand ihres Schreibens. Sie scheinen mehr
konventionelle Geste als genuine Offenheit zu sein.
Möglicherweise verbirgt sich dahinter die Skepsis, die sie als Tochter
philippinischer Immigrant*innen dem US-amerikanischen Urideal von
Weiblichkeit – schön, hetero, weiß – entgegenbringt. Vielleicht hat
Tolentino auch ganz einfach ihr eigenes Credo verinnerlicht: „Wir müssten
uns weniger um unsere eigenen Identitäten kümmern.“
## Hund, Haus, Bikini
Auf Instagram liken regelmäßig 15.000 Follower generische Fotos von
Tolentinos Hund, Landhaus oder Bikinifigur. Ihr strahlendes Lächeln
durchdringt sie alle, wie es ihr sonst so geht, erfahren wir nicht. Diese
Ungreifbarkeit könnte gar ihr Alleinstellungsmerkmal sein: Emotional die
Hosen runterzulassen ist die Währung, mit der junge Frauen für gewöhnlich
für ihren Erfolg bezahlen.
Wir erwarten von der Essaysammlung einer aufstrebenden Autorin, dass sie
sich verletzlich macht. Im Gegensatz dazu ist Tolentino erfrischend
unaufgeregt. Und das könnte genau das sein, was dieses Girl next door zur
ersten großen [3][Normcore]-Intellektuellen machen könnte.
1 Mar 2021
## LINKS
[1] https://twitter.com/jiatolentino?lang=de
[2] https://www.nytimes.com/2016/04/17/magazine/how-empowerment-became-somethin…
[3] /Das-Distinktionsversprechen-der-Mode/!5657960
## AUTOREN
Eva Tepest
## TAGS
Millennials
Feminismus
Instagram
Selbstinszenierung
Philosophie
Digital Natives
Schwerpunkt Frankfurter Buchmesse 2024
taz.gazete
## ARTIKEL ZUM THEMA
Erzählungen von Susan Taubes: Geisterhafte Entgleisungen
Die Philosophin Susan Taubes erzählt in „Klage um Julia“ von einem jungen
„interessanten Phänomen“. Und geht dabei auf die Widersprüche zwischen
Körper und Geist ein.
Erzählungsband „Belohnungssystem“: Neuverschaltet im Digitalozän
Jem Calder beschreibt das Liebes- und Lebensleiden der Digital Natives. In
„Belohnungssystem“ blickt er kühl auf das, was junge Erwachsene antreibt.
Essayband von Siri Hustvedt: Der Blick der Männer auf Frauen
Siri Hustvedt analysiert in ihrem neuen Essayband, wie Männer Weiblichkeit
konstruieren. Auch an Susan Sonntags Pornobegriff arbeitet sie sich ab.
Buch „Sexuell verfügbar“: Auf Onkels Schoß
Das Bewusstsein für Genderungerechtigkeiten verändert sich. Unser Verhalten
nicht. Die Journalistin Caroline Rosales über die Macht von Bildern.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.