Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Buch „Sexuell verfügbar“: Auf Onkels Schoß
> Das Bewusstsein für Genderungerechtigkeiten verändert sich. Unser
> Verhalten nicht. Die Journalistin Caroline Rosales über die Macht von
> Bildern.
Bild: „Für meine Generation ist es schon eine Mutprobe, sich ein bisschen Ac…
Vielleicht ist es kein Zufall, dass die jungen Frauen meiner Generation,
gerade wenn sie den Feminismus feiern, die Generation der Feministinnen der
zweiten Welle klandestin ausklammern. Denn Germaine Greer oder Andrea
Dworkin waren und sind in ihrem Schreiben und Handeln viel radikaler, als
wir es je sein könnten. Weil wir dressierte Pudel sind, die Angst haben,
dass man uns kein Leckerli (bisschen Aufmerksamkeit, einen tollen Job oder
eben Liebe) reicht, wenn wir Mätzchen machen. Bloß keine lästige Bitch
sein!
Für meine Generation ist es schon eine Mutprobe, sich ein bisschen
Achselhaar wachsen zu lassen, auch auf die Gefahr hin, für Männer
unattraktiv oder gar gänzlich unsichtbar zu sein. Feministische Posen zu
turnen wird die Frau des 21. Jahrhunderts gewiss nicht befreien. Vor allem
aber müssen wir uns eingestehen, dass ein wachsendes Bewusstsein für
Geschlechterungerechtigkeit oder die kleinen und großen Zurichtungen von
Frau und Mann in unserer Kultur theoretisch noch so klug reflektiert sein
können: Zu einer Verhaltensänderung führt das nicht unbedingt.
Das zeigt auf seine ganz eigene Art „Sexuell verfügbar“, das aktuelle Buch
der Journalistin Caroline Rosales. Wie auch in ihrem Buch „Single Mom“
schreibt Rosales, Jahrgang 1982, aus einer sehr persönlichen Perspektive
über sexuelle Selbstbestimmung, weibliche Handlungsmacht und die so
zentrale Kategorie der Fuckability einer Frau.
Vieles, was Rosales als Teenagerin oder junge Frau erlebte, kenne ich aus
Erzählungen meiner Freundinnen oder persönlichen Erfahrungen. Vermutlich
werden viele Leserinnen dieses Aha-Moment verspüren. BEI IHR ALSO AUCH!
Dieser Moment ist wichtig, er ist sogar zentral.
## Permanent wird der Körper kommentiert
Übrigens gilt das auch klassenübergreifend. Rosales und ich entstammen
unterschiedlichen Schichten und kulturellen Milieus. Und trotzdem
wiederholen sich Erfahrungen. Wie jene, dass das Gewicht eines Mädchens
permanent von Verwandten (vor allem den Frauen!) kommentiert wird. Auch das
Sitzen auf Onkels Schoß, Küsschen hier und Küsschen da. Sei fügsam, hübsch
und brav; sei wie ein guter Hund: bitte niemals bissig!
Jedenfalls beschloss ich noch beim Lesen, dass das Buch auch von der
Teenager-Schwester meines Mannes gelesen werden muss. Vielleicht erlebt sie
all das genauso? Oder noch viel schlimmer, weil sie zu der Generation
junger Frauen gehört, deren Aussehen nicht nur von Müttern und Tanten
kommentiert wird, sondern von Anfang an auch [1][von Freunden in Social
Media].
Social Media ist überhaupt ein wichtiges Thema. Frauen der Generation von
Rosales, also Frauen in ihren Dreißigern, wurden auch mit schwer
erreichbaren Vorbildern in Musik, Film und Mode konfrontiert. „Wow, so
würde ich gerne aussehen!“, dachten sicher die meisten von uns. Trotzdem
war da auch ein Bewusstsein, dass niemand ernsthaft von uns erwartete, wie
ein Superstar oder Modell auszusehen.
## Status der sexuellen Verfügbarkeit
Wenn aber heute auf Instagram Mädchen von nebenan wie Models aussehen – und
das tun sie! –, kreiert das einen unfassbaren Druck. Ob nun ein Filter oder
eine Face-App im Spiel ist: Weil wir grundsätzlich ähnliche technische
Möglichkeiten der Manipulation haben, erscheint das perfekte Gesicht des
Girl Next Door noch erhabener. Zum Glück bin ich Instagram erst mit 32
beigetreten. Selbst bei einer reifen Frau wie mir erzeugt die Plattform,
wenn ich nicht aufpasse, schlimmste Komplexe und den dringenden Wunsch,
meinen Körper durch allerhand invasive Maßnahmen optimieren zu lassen.
Als Ü30-Frau mit Kind muss ich mich nicht mit heißen Teenie-Girls messen,
dafür wird das eine oder andere Bild mit Kommentaren wie „ah, riecht nach
MILF“ versehen. Einmal abgesehen von der schrägen, oder sagen wir
unglücklichen Geruchsmetapher: nicht mal als Mutter kann man sich dem
ewigen Wettkampf um den Status der sexuellen Verfügbarkeit entziehen. Die
meisten von uns zucken zusammen, wenn sie zu hören bekommen: „Für eine
Mutter siehst du ja echt gut aus.“ Öhm, danke fürs Kompliment, oder so.
Auch die MILF-Mädchenrechnung, wie sie [2][Autorin Katja Grach im
gleichnamigen Buch] auseinandernimmt, kommt in Rosales’ Text vor. Wieder
wird sie sehr persönlich, wenn sie ihre Buseninstandsetzungsmaßnahmen nach
der Stillzeit schildert. Da sitzt sie, mit zwei kleinen Kindern im
Schlepptau, in der Praxis eines Chirurgen, der ihr die mehr oder minder
gelungenen Versuche der Anpassung menschlichen Gewebes an unmenschliche
Maßstäbe vorführt. Es habe gar nicht so wehgetan, erklärt sie, während bei
der Leserin (mir!) jede Brustmuskelfaser zuckt und schmerzt.
## Die Angst vor Liebesverlust
Mensch Rosales, echt jetzt? Dass Rosales, die gegen Schönheitswahn
anschreibt, alle Schmerzen und Kosten (finanziell, psychisch und
emotional) eines solchen Eingriffs kleinredet, ärgert ein bisschen. Wie
überhaupt all die Ungerechtigkeiten und fiesen Kommentare, die frau in
ihrem Leben so zu hören bekommt, und unsere unmenschliche, manchmal
unmenschlich doofe Tendenz, das hinzunehmen, kleinzureden, unseren Schmerz
und die Verletzungen zu beschweigen, so richtig wütend machen. Natürlich
sind wir meistens wütend auf uns selbst!
Im Kontext der Lektüre von Rosales’ Buch musste ich immer wieder an
Margarete Mitscherlichs psychoanalytischen Klassiker Die friedfertige Frau
denken. Sie analysiert das gesellschaftliche Konstrukt einer vermeintlich
friedfertigen, weniger aggressiven Frau. Sie zeigt, dass die Aggression
auch bei Frauen vorhanden ist, aber andere Erscheinungsformen offenbart.
Sie zeigt auch, dass das, was oft genug als lustvoll gelebte,
masochistische Unterwerfungslust der Frau erscheint, antrainiertes
Verhalten ist. Denn fast alle Frauen teilen eine zentrale Angst: den
möglichen Liebesverlust.
Die Angst vor Liebesverlust, so Mitscherlich, ist die Triebfeder für
weibliches Handeln. Sie zeigt sich im Falle von Rosales und vielen anderen
Frauen (mich nicht ausgenommen), wenn wir schon in Teenagertagen alles
versuchen, die sexuellen Wünsche unserer Boyfriends, in stundenlangen
Pornokonsumsessions präfiguriert, zu befriedigen. „Bislang hatten mein
Freund und ich nie so miteinander geschlafen. Nicht auf die
Hardcore-Variante, die wohl mehr mit gerissenen Schleimhäuten,
Blasenentzündungen und Pflichterfüllung als mit einer gemeinsamen Sache zu
tun haben musste“, schreibt Rosales über eine Situation, in dem sie mit
ihrem Freund zum ersten Mal Hardcore-Pornografie betrachtete.
## Verlegensheitssex ist Selbstunterwerfung
Rosales’ Buch ist da am witzigsten, wo man eigentlich heulen müsste. Wie
anders als mit Humor können wir damit umgehen, dass Hardcore-Pornografie,
die nichts mit Lust, dafür aber sehr viel mit Unterwerfung und in vielen
Fällen offener Misogynie zu tun hat, das Sexualverhalten ganzer
Generationen von Männern und Frauen prägt? Will man Material sehen, das
nicht bis in die letzten Nervenenden der Vagina verstört, muss man so etwas
wie Female Friendly Porn googeln, und auch dann findet man meist nur
Pornos, in denen Frauen ein bisschen weniger brutal anal penetriert werden.
Ladies and gentleman, we are fucked.
Die Angst vor Liebesverlust und die daraus resultierende Unterwerfung
erklärt womöglich auch die seltsamste Anekdote in Rosales’ Buch: ihren
[3][Metoo-Moment]. Der Moment, als sie einen älteren, einflussreichen
Chefredakteur zu sich aufs Zimmer mitnimmt, obwohl sie ihn nicht mag. Es
kommt zum Sex und sie wehrt sich nicht. Beim Lesen denkt man immer wieder:
Oh Gott, warum sagt sie denn nichts? WARUM SAGT SIE DENN NICHTS!?
Weil Rosales noch in dem Moment, in dem die Gegenwart des anderen nur
Unbehagen erzeugt, an erster Stelle über seine Gefühle nachdenkt. Auch in
einem Text, der Jahre später geschrieben wurde. Es ist der Schlüssel zu
Metoo: „Der Aufwand, den Typen jetzt wieder abzumoderieren, ist weitaus
höher, als es einfach hinter sich zu bringen. Was ist das Wort dafür?
Verlegenheitssex?“ Lieber Sex zu haben, als den anderen zu verärgern oder
zu kränken, ist keine Verlegenheit. Es ist Selbstunterwerfung unter die
Doktrin der sexuellen Verfügbarkeit.
3 Feb 2019
## LINKS
[1] /Frauenbilder-bei-Instagram-und-Co/!5565869
[2] /Autorin-ueber-Muetter-und-Sex/!5502889
[3] /Ein-Jahr-MeToo/!5538032
## AUTOREN
Marlen Hobrack
## TAGS
taz.gazete
Feminismus
Geschlechtergerechtigkeit
Politisches Buch
Schwerpunkt Leipziger Buchmesse 2024
Millennials
Schwerpunkt #metoo
sex-positiv
Streitschrift
Schwerpunkt Frankfurter Buchmesse 2024
Valerie Solanas
Schwerpunkt #metoo
Instagram
Schwerpunkt #metoo
Lesestück Interview
## ARTIKEL ZUM THEMA
Innerfeministische Debatten: Die Sache mit dem Begehren
Feminismus im 21. Jahrhundert muss neu gedacht werden. Darüber schreibt die
Philosophin Amia Srinivasan in „Das Recht auf Sex“.
US-Bestseller über die Millennials: Die erste Normcore-Intellektuelle
Jia Tolentino wird als feministisches Sprachrohr der Millennials gefeiert.
Sie untersucht Strategien weiblicher (Selbst-) Inszenierung.
Zu Besuch in einem Kurs zu Konsens: Du und ich. Ja oder nein
Seit #metoo wird viel über Einwilligung zu Intimität geredet. Ein Workshop
lehrt: Konsens ist wesentlich komplexer, als nur „ja“ oder „nein“ zu sa…
Autorin über ihre Arbeit im Sexshop: „Ich setzte mich für Normalität ein“
Candy Bukowski ist Autorin und berät Menschen im Sexshop. Ein Gespräch über
Sexualität, Freiheit und Sex-Toys für Frauen.
Streitschrift von Gunda Windmüller: Mythos der unglücklichen Singlefrau
„Weiblich, ledig, glücklich – sucht nicht“: Mit ihrer Streitschrift will
Gunda Windmüller Stereotype über alleine lebende Frauen entkräften.
Sozialphilosophin über Frauenhass: „Misogynie ist sehr beharrlich“
Kate Manne legt in ihrem neuen Buch „Down Girl“ die krude Logik und
Komplexität patriarchaler Strukturen offen. Frauen, die aus der Reihe
tanzen, werden bestraft.
Roman „Die Geschichte der Frau“: Breitbeiniger Anspruch
In „Die Geschichte der Frau“ will Feridun Zaimoglu weiblicher Wut eine
Stimme geben, von Antigone bis Valerie Solanas. Der Autor scheitert.
#MeToo in Frankreich: Politiker verklagt Frauen
Der grüne Ex-Abgeordnete Denis Baupin wurde von 14 Frauen der sexuellen
Belästigung bezichtigt. Nun zerrt er sie wegen Verleumdung vor Gericht.
Frauenbilder bei Instagram und Co.: Medien neu, Geschlechterrollen alt
Frauen sind in den „sozialen“ Medien schlecht, zeigen drei neue Studien.
Ihre Inszenierung basiert auf veralteten Rollenbildern.
Ein Jahr #MeToo: Endlich drüber reden
Seit einem Jahr bewegt #MeToo die Welt. Aus einem Hashtag wurde eine
globale Bewegung für Konsens und Respekt.
Autorin über Mütter und Sex: „Die MILF ist ein Markt“
Katja Grach über ihr Buch „Die MILF-Mädchenrechnung“ und die Frage, wie a…
der „Mom I’d like to fuck“ ein Subjekt werden kann.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.