# taz.de -- Ein Jahr #MeToo: Endlich drüber reden | |
> Seit einem Jahr bewegt #MeToo die Welt. Aus einem Hashtag wurde eine | |
> globale Bewegung für Konsens und Respekt. | |
Bild: Bei #MeToo geht es um gegenseitigen Respekt und das Wahren von Grenzen | |
„Im Gedränge in der U-Bahn, ein Typ drückt seinen steifen Schwanz an mich, | |
ich drehe mich um, er grinst“, schreibt eine. „Drei Jahre her, seit er mich | |
vergewaltigt hat – das erste Mal, dass ich es öffentlich mache“, eine | |
andre. Einfach nur #MeToo schreiben viele, 200.000 am ersten Tag, Millionen | |
Frauen aus mehr als 80 Ländern weltweit seit rund einem Jahr. | |
Im Oktober 2017, nachdem mehrere Frauen in den USA berichtet hatten, | |
[1][wie der Filmmogul Harvey Weinstein sie sexuell belästigt hatte], rief | |
die Schauspielerin Alyssa Milano auf Twitter dazu auf, von den eigenen | |
Geschichten sexualisierter Gewalt zu erzählen. „Wenn alle Frauen, die | |
sexuell belästigt oder angegriffen wurden, #MeToo schreiben würden, | |
könnten wir den Leuten ein Gefühl vom Ausmaß des Problems geben“, schrieb | |
sie. | |
Die erste Welle, die hierzulande mit den in der Zeit veröffentlichten | |
Anschuldigungen [2][gegen den Regisseur Dieter Wedel] ihren Höhepunkt | |
erreichte, ist abgeebbt. Doch sobald neue Vorwürfe ans Licht kommen wie | |
jüngst in Deutschland gegen Mitarbeiter der Gedenkstätte | |
Berlin-Hohenschönhausen, in den USA gegen Trumps Kandidaten für den | |
Obersten Gerichtshof, [3][Brett Kavanaugh], oder, global gewissermaßen, | |
gegen den Fußballer Cristiano Ronaldo, schwappt sie wieder hoch. In welchem | |
Kontext die Fälle stehen, ist sofort klar. | |
Denn was bleiben wird von #MeToo, sind konkrete Folgen: strukturelle | |
Veränderungen wie Beratungsstellen, Rücktritte, auch Urteile [4][gegen | |
Täter wie Bill Cosby]. Was bleiben wird, ist aber auch ein Code, der sich | |
ins kulturelle Gedächtnis weiter Teile der Welt gebrannt hat: Der Hashtag | |
ist Synonym geworden für das Erleben und Offenlegen sexualisierter Gewalt. | |
## Frauen können reden | |
Dabei führt schon der Charakter der unerwünschten, verletzenden oder | |
gewaltvollen Taten dazu, dass #MeToo in der medialen Debatte häufig | |
negativ, zumindest ambivalent konnotiert war. Für Frauen aber liegt in | |
#MeToo etwas genuin Positives: Sie können reden. Sexualisierte Gewalt ist | |
aus dem enormen Dunkelfeld aufgetaucht, in dem sie dank männlicher Macht | |
bisher ihren Platz hatte. Was als Einzelfall abgetan wurde, hat, das ist | |
nun nicht mehr zu leugnen, System. | |
#MeToo wurde in verschiedenen Ländern unterschiedlich benannt – die einen | |
sagten „#MeToo-Debatte“, wie oft im deutschsprachigen Raum, etwas | |
zurückgenommener, abstrakter verortet. Weit mehr nannten es „internationale | |
#MeToo-Bewegung“, wie in den USA oder Spanien. | |
Der Unterschied dabei: Die „Debatte“ findet im Feuilleton statt, die | |
„Bewegung“ auf der Straße. Dort werden Akteurinnen laut, dort kann Schwung | |
entstehen. #MeToo war beides, Bewegung und Debatte, die sich veränderte und | |
entwickelte – und Wandel hat beides unwiderruflich gebracht. Die Zeit, in | |
der der Hashtag entstand und sich rasend schnell verbreitete, ist die eines | |
weltweiten Rechtsrucks – und zugleich und damit verknüpft die einer neuen | |
Welle des Feminismus. | |
Ein halbes Jahr vor #MeToo, einen Tag nach Amtseinführung des stolzen | |
Grabschers und misogynen US-Präsidenten Donald Trump, der nun Kavanaugh ins | |
Amt bringen will, waren in den USA Hunderttausende Frauen gegen Trumps | |
sexistische Statements auf die Straße gegangen. Ein halbes Jahr nach #MeToo | |
wiederum demonstrierten in Polen Tausende, in Spanien Millionen Frauen: | |
gegen das geplante vollständige Abtreibungsverbot in ihrem Land die einen, | |
gegen Diskriminierung im Beruf und sexualisierte Gewalt die anderen. | |
## Globaler Backlash gegen Selbstbestimmung | |
In Russland ist es, als #MeToo entsteht, wieder legal, Frauen zu schlagen, | |
Demos dagegen werden nicht genehmigt. In Indien gehen seit Jahren Fälle von | |
Massenvergewaltigung durch die Presse – Frauen machen dagegen mobil. Und in | |
Deutschland schließlich ist gerade die AfD ins Parlament eingezogen, die | |
Frauen zurück in die 1940er Jahre verbannen will. Der globale Backlash | |
gegen Selbstbestimmung, sexuelle und reproduktive Rechte ist der Nährboden, | |
auf den, wenn es auch nicht direkt darauf reagiert, #MeToo weltweit fällt. | |
Mitte Oktober 2017 ist klar: Stillhalten ist nicht mehr. Dutzende | |
SchauspielerInnen beschreiben ihre Erfahrungen mit Weinstein, darunter Rose | |
McGowan oder Léa Seydoux. Schnell greift die Bewegung von der Show- auf | |
andere Branchen über: In Japan tritt der Chef eines der größten | |
Lebensmittelkonzerne zurück, in Österreich berichtet eine Skirennläuferin | |
von regelmäßigen Übergriffen durch Trainer, in Skandinavien verlieren | |
Politiker ihre Jobs. #MeToo in Zahlen zu fassen wäre ein globales | |
Rechercheprojekt – und eines mit offenem Ende. | |
Es sind Prominente, ausgestattet mit Geld und Status, die #MeToo publik | |
machen – bis heute ist es ein Klassenprojekt, dessen USNachfolgehashtag | |
#Time’s Up für Arbeiterinnen nicht in demselben Maß zündete. Zudem wird | |
schnell bekannt, dass die schwarze Aktivistin Tarana Burke #MeToo schon | |
Jahre zuvor verwendete. Doch die Bewegung schafft es, diese Kritik | |
zumindest in Teilen produktiv zu wenden: Burke und Milano etwa stehen heute | |
beide für den Hashtag ein. | |
#MeToo zeigt schnell Facetten: Die Tweets, Interviews und Debattenbeiträge | |
der Frauen sind sowohl enormer Ausdruck der Solidarisierung als auch | |
Anklage – weil beides Hand in Hand geht, vor allem dann, wenn Namen genannt | |
werden. Thematisiert werden sowohl die ungewollte Anmache des Chefs als | |
auch körperliche Übergriffe. | |
## Kritik an Bandbreite der Bewegung | |
Die Bandbreite wird schnell zum Vorwurf: Auch „ungeschicktes Flirten“, | |
[5][kritisiert die Französin Catherine Deneuve], werde plötzlich | |
kriminalisiert. Der ehemalige Feuilletonchef der Zeit, Jens Jessen, sieht | |
einen „totalitären Feminismus“ am Werk. Und immer wieder fällt in bester | |
misogyner Tradition und unter anderem vonseiten der AfD das Wort | |
„Hysterie“. | |
Dass die Bandbreite der Bewegung kritisiert wurde, liegt an einem noch | |
immer verbreiteten Missverständnis: der Annahme, bei #MeToo sei es um Sex | |
gegangen. Es ging um sexualisierte Gewalt und damit um Macht. Sowohl der | |
Typ, der eine mit Blicken auszieht, als auch der, der eine Frau | |
vergewaltigt, handelt aus einer Position heraus, die in patriarchalen | |
Gesellschaften Struktur hat. Und weil es in diesen Gesellschaften in den | |
allermeisten Fällen nicht reicht, wenn nur eine Frau spricht – im Fall der | |
Verurteilung von Bill Cosby brauchte es ganze 60, bis ihnen geglaubt wurde | |
–, sprechen nun viele. | |
Dabei ist es das Dilemma von #MeToo, dass fast alles, was für Frauen | |
positiv aufgeladen sein kann, auch negativ gewendet werden kann. Ein | |
mutiges Bekenntnis wird zur Opferrolle umgedeutet. Und auch die Kraft, die | |
für Frauen aus der gegenseitigen Solidarität erwächst, wird ihnen zum | |
Vorwurf gemacht: #MeToo, heißt es, könne durch falsche Anklagen Leben | |
zerstören. | |
Das stimmt. Wie es auch stimmt, dass durch sexualisierte Gewalt Leben | |
zerstört werden können. Sobald Vorwürfe erst einmal im Raum stehen, ist | |
dieses Patt schwer auszuräumen. Was also hilft, ist, darauf hinzuarbeiten, | |
dass es künftig weniger Vorwürfe gibt. Es klingt paradox – aber genau das | |
hat #MeToo getan. | |
## Kultur von Konsens und Respekt | |
#MeToo war weit mehr als nur Abwehrkampf gegen Grabscher, Spanner und | |
Vergewaltiger, wie die derzeitige Welle des Feminismus überhaupt mehr als | |
nur Abwehrkampf gegen ein reaktionäres Klima ist. Die neue Welle entwickelt | |
Visionen, im Fall von #MeToo ist es die einer Kultur von Konsens und | |
Respekt – in einem Alltag, in dem die Abwesenheit von anzüglichen Blicken | |
in der U-Bahn, scheinbar lässig dahingesagten Sprüchen im Job oder Händen | |
auf Hintern in der Kneipe angenehm auffällt. | |
Denn Debatten wie diese verändern Kulturen. Es brauchte jahrelange Kämpfe, | |
bis 1997 das Verbot von Vergewaltigung in der Ehe kam und 2016 die Reform | |
des Sexualstrafrechts, seit der „Nein heißt Nein“ gilt. Auf diesem Weg ist | |
#MeToo ein weiterer Schritt hin zu einem „Ja heißt Ja“, wie es seit Juli in | |
Schweden Gesetz ist und derzeit in Spanien vorbereitet wird. | |
Hierzulande folgen auf Entwicklungen wie diese noch hämische Kommentare und | |
die Frage, ob für Sex jetzt Verträge nötig seien. Aber „aktive Teilnahme�… | |
die es für „Ja heißt Ja“ braucht, heißt genau so viel: Wenn die Frau sich | |
scheintot stellt, sollte auch der Mann möglichst aufhören. Irgendwann wird | |
auch die Mehrheit der deutschen Männer das verstehen – auch dank #MeToo. | |
Denn hinter #MeToo können wir schon heute, ein Jahr später, nicht mehr | |
zurück. Zwar wird Frauen, so explizit und detailliert die Schilderungen | |
auch sein mögen, noch immer schwerlich geglaubt. Zwar bekommen sie wie | |
Christine Blasey Ford Morddrohungen und brauchen Personenschutz, sobald sie | |
sprechen. Zwar lässt der Status der Beschuldigten die Tat oft nachrangig | |
erscheinen: Was ist, wie im Falle Ronaldos, schon eine anale Vergewaltigung | |
gegen ein paar neue Tore des Helden in der Champions League. | |
Und schließlich ist das Prinzip Konsens in nahezu allen Räumen, in denen | |
Menschen miteinander Kontakt haben – sei es Sex, sei es Arbeit –, noch | |
längst nicht das, nach dem wir als Gesellschaft handeln. Aber #MeToo ist | |
ein Meilenstein auf dem Weg dorthin: Frauen als eigenständige Subjekte zu | |
respektieren. | |
6 Oct 2018 | |
## LINKS | |
[1] /Missbrauchsvorwuerfe-gegen-Weinstein/!5454208 | |
[2] /Missbrauchsvorwuerfe-gegen-Dieter-Wedel/!5477674 | |
[3] /Vorwuerfe-gegen-US-Richterkandidat/!5541413 | |
[4] /Urteil-wegen-sexueller-Noetigung/!5538735 | |
[5] /MeToo-Debatte-in-Frankreich/!5474061 | |
## AUTOREN | |
Patricia Hecht | |
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