# taz.de -- Nach der Reform des Sexualstrafrechts: Gefahrenzone Oktoberfest | |
> Männer könnten wegen #MeToo und Strafrechtsreform nicht mehr gefahrlos | |
> flirten, warnt eine Sat1-Sendung. Ein Faktencheck zu sexualisierter | |
> Gewalt. | |
Bild: Oktoberfestzeit heißt immer auch: sexistische Sprüche und sexualisierte… | |
Wenn die Angst mitfeiert: „Mann greift Oktoberfestbesucherin unter den Rock | |
und schlägt ihr einen Maßkrug ins Gesicht“, heißt es im „Wiesnreport“ … | |
Münchner Polizei für den 25. September. Oder, selber Tag: „Vergewaltigung | |
auf dem Festgelände.“ Und: „Versuchter sexueller Missbrauch einer | |
widerstandsunfähigen Frau.“ | |
„Wenn die Angst mitfeiert“ – unter diesem Titel widmete sich auch [1][das | |
Sat1-Frühstücksfernsehen dem Oktoberfest]. Und redet über: Männer, die sich | |
jetzt auf den Wiesn wirklich nicht mehr sicher fühlen können. „Die | |
#MeToo-Debatte und die Verschärfung des Sexualstrafrechts kann das Ganze | |
für Frauen und natürlich auch für Männer sehr gefährlich machen“, weiß | |
Moderator Christian Wackert. | |
„Schon krass“ findet sein Gast, der Strafrechtler Alexander Stevens, den | |
Fall eines Mannes, der [2][zu acht Monaten auf Bewährung verurteilt wurde], | |
„und das Ganze, weil er einer Frau oberhalb der Bekleidung zwischen die | |
Beine gefasst hat“. Ob das noch verhältnismäßig sei, fragt Stevens – | |
immerhin käme man bei Körperverletzung oft mit weniger davon. | |
Es ist schon furchtbar, so der Tenor, dass solcherlei Delikte seit | |
[3][Inkrafttreten des neuen Sexualstrafrechts] im November 2016 zu den | |
„Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung“ zählen. „Jetzt habe ich | |
das Gefühl, dass das in erster Linie für die Männer schlimm ist, diese | |
Verschärfung des Sexualstrafrechts“, sagt Wackert. Aber auch für die Frauen | |
sei es schlecht: „Weil Männer sich gar nicht mehr trauen, vernünftig zu | |
flirten.“ | |
## Mehr angezeigte Fälle | |
Nun sei mal dahingestellt, ob es Frauen gibt, denen diese Art von Flirt – | |
Griffe zwischen die Beine, ins Dekolletee, und so weiter – wirklich fehlen | |
würde. Fakt ist: Seit der Reform werden [4][mehr Straftaten aus diesem | |
Bereich zur Anzeige gebracht]. | |
Wurden im Jahr 2015 laut [5][Kriminalstatistik des BKA] noch wegen 46.081 | |
Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung ermittelt, waren es im Jahr | |
2017 56.047 – ein Anstieg um etwa 21,6 Prozent. Das liegt aber weder | |
unbedingt daran, dass die Zahl der Vergehen in die Höhe geschossen ist, | |
noch daran, dass Frauen unschuldigen Männern das Leben zur Hölle machen | |
wollen. | |
Zuerst einmal sind mit dem neuen Gesetz neue Straftatbestände im Bereich | |
der [6][„Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung“] dazugekommen – … | |
etwa der sexuelle Übergriff oder die sexuelle Belästigung mit körperlicher | |
Berührung. Ein Griff in den Schritt etwa war vor der Reform allenfalls als | |
Beleidigung mit sexuellem Hintergrund strafbar und fließt somit erst seit | |
November 2016 in die Statistik ein. | |
Und auch, [7][was als Vergewaltigung gilt], wurde erweitert: So ist jetzt | |
entscheidend, dass die sexuelle Handlung gegen den Willen des Opfers | |
geschehen ist – Stichwort „Nein heißt Nein“. Vorher war für den | |
Straftatbestand einer Vergewaltigung etwa Bedingung, dass das Opfer sich | |
körperlich gewehrt hat, mit Gewalt gezwungen wurde oder in einer | |
schutzlosen Lage war – was oft eng ausgelegt wurde. | |
## Neue Struktur im Gesetz | |
Gut nachvollziehen lässt sich das unter anderem im [8][Sicherheitsreport | |
des Polizeipräsidiums München für 2017]. Dort zeigt sich nicht nur, dass | |
die Zahl der angezeigten Sexualdelikte auf dem Oktoberfest seit 2015 (21) | |
bis 2017 auf 69 gestiegen ist. Der Report zeigt auch, dass die | |
verzeichneten Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung insgesamt von | |
2016 auf 2017 um 35 Prozent angestiegen sind, von 882 auf 1.191. | |
Die darin enthaltenen 252 Fälle sexueller Belästigung seien aber „vormals | |
überwiegend als Beleidigungen auf sexueller Grundlage mit Tätlichkeit“ | |
gemeldet worden – diese Gruppe schrumpfte entsprechend um 285 Fälle. In der | |
Gesamtbetrachtung, so der Sicherheitsreport, sei von 2016 auf 2017 ein | |
„leichter Anstieg“ von 1,8 Prozent zu verzeichnen. | |
Expert*innen gehen davon aus, dass dieser Anstieg neben der | |
Umstrukturierung der Straftatbestände in der Tat noch einen weiteren Grund | |
hat: Die gesellschaftliche Debatte, die durch #MeToo noch verstärkt wurde. | |
„Viele Frauen fühlen sich durch die öffentliche Debatte der vergangenen | |
Jahre stärker ermutigt, Fälle anzuzeigen“, sagt etwa Katharina Göpner vom | |
[9][Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe]. „Außerdem ist | |
das Wissen darüber, was strafbar ist, durch die Debatte heute weiter | |
verbreitet.“ Dass die Zahlen jetzt steigen, wundert sie aus genannten | |
Gründen nicht. | |
## Viele Probleme bleiben | |
„Wir gehen davon aus, dass 90 Prozent der Fälle sexualisierter Gewalt in | |
der Vergangenheit gar nicht zur Anzeige gebracht worden sind“, sagt Göpner. | |
„Inwiefern sich das Dunkelfeld jetzt aufhellt, kann man noch gar nicht | |
sagen – aber da gibt es sicherlich immer noch eine große Lücke.“ | |
Denn viele Probleme blieben bestehen: Oft stünde Aussage gegen Aussage, und | |
die Prozesse dauern lange – für die Opfer eine Belastung, zumal sie vor | |
Gericht das Erlebte noch einmal schildern müssen. | |
Eine ganz andere Frage ist, inwiefern die höheren Anzeigenzahlen auch zu | |
mehr Verurteilungen führen werden. Bundesweite Zahlen für 2017 kann das | |
Statistische Bundesamt noch keine nennen. | |
## Anteil der Urteile gering | |
Ein Blick nach NRW, das bevölkerungsreichste Bundesland, zeigt: 2015 wurden | |
dort dem Landesjustizministerium zufolge 1.399 Personen wegen Straftaten | |
gegen die sexuelle Selbstbestimmung verurteilt, 2017 waren es 1.535. Das | |
entspricht einem Anstieg von knapp zehn Prozent. | |
Aber: 2015 endeten 14,2 Prozent der bekannt gewordenen Fälle auch in einer | |
Verurteilung. 2017 hingegen waren es, trotz des Anstiegs bei den Anzeigen, | |
sogar weniger: Nur in 11,9 Prozent der dem LKA bekannten Fälle gab es auch | |
eine Verurteilung. | |
Von einer Hexenjagd, wie Sat1 sie herbeiredet, kann also keine Rede sein. | |
Er glaube nicht, dass sich durch das neue Gesetz viel am Verhalten der | |
Menschen auf Volksfesten ändern werde, sagt Strafrechtler Stevens in der | |
Sendung. Aber: „Die Konsequenzen sind brutal mittlerweile.“ Dass dies | |
mitfühlende Worte in Richtung der Opfer sind, ist zu bezweifeln. | |
Anmerkung der Redaktion: Während dieser Text entstand, reagierte Sat1 | |
offenbar auf die Kritik, die unter anderem über die sozialen Medien und | |
[10][einen Buzzfeed-Artikel] kommt: Das Video ist nicht mehr auf der | |
Webseite auffindbar. Moderator Wackert [11][erklärt in einem Tweet]: „Liebe | |
alle, Kritik angekommen. Talk nochmal angeschaut, redaktionell besprochen. | |
Fehler gesehen und notiert. Dafür möchte ich mich entschuldigen.“ | |
27 Sep 2018 | |
## LINKS | |
[1] https://www.sat1.de/tv/fruehstuecksfernsehen/video/oktoberfest-zeit-zeit-fu… | |
[2] https://www.sueddeutsche.de/muenchen/wiesn-grapscher-bewaehrung-1.4133613 | |
[3] /Neues-Sexualstrafrecht-verabschiedet/!5320253 | |
[4] /Verschaerfung-des-Sexualstrafrechts/!5439764 | |
[5] https://www.bka.de/SharedDocs/Downloads/DE/Publikationen/PolizeilicheKrimin… | |
[6] https://www.gesetze-im-internet.de/stgb/__177.html | |
[7] /Debatte-Vergewaltigungsparagraf/!5024713 | |
[8] https://www.polizei.bayern.de/content/2/6/0/0/3/8/sirepo_2017_webversion2.p… | |
[9] https://www.frauen-gegen-gewalt.de/de/ | |
[10] https://www.buzzfeed.com/de/pascalemueller/sat1-fruehstuecksfernsehen-meto… | |
[11] https://twitter.com/CWackert/status/1045236394719924224 | |
## AUTOREN | |
Dinah Riese | |
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