# taz.de -- Autorin über Mütter und Sex: „Die MILF ist ein Markt“ | |
> Katja Grach über ihr Buch „Die MILF-Mädchenrechnung“ und die Frage, wie | |
> aus der „Mom I’d like to fuck“ ein Subjekt werden kann. | |
Bild: Niedlich, aber nicht förderlich für das Sexualleben ihrer Eltern: Drill… | |
taz: Frau Grach, Sie schreiben von der „Dreifaltigkeit der MILF“: Porno, | |
Popkultur und Real-Life-Mütter. Wie hängen diese drei Begriffe miteinander | |
zusammen? Und was bedeutet MILF eigentlich genau? | |
Katja Grach: Die Definition MILF, die „Mom I’d like to fuck“, wurde in den | |
1990er Jahren durch die Teenie-Komödie „American Pie“ populär. Der Begriff | |
hat sich dann ab Mitte der 2000er Jahre in der Mainstream-Pornografie | |
etabliert und blieb gleichzeitig auch in der Popkultur hängen. Prominente | |
Mütter werden damit betitelt – oder tun es selbst, um ihre Sexyness auch | |
nach der Geburt ihres ersten Kindes zu unterstreichen. Da kommen dann die | |
„Real-Life-Mütter“ ins Spiel. Die Erwartungshaltung, dass ein Frauenkörper | |
bestimmten Schönheitskriterien zu entsprechen hat, gilt mittlerweile auch | |
im Kreißsaal. Dabei geht es nicht nur um Schönheit, sondern sehr stark um | |
die sexuelle Attraktivität, die sogenannte „Fuckability“. | |
Frauen sind ja diesen Ansprüchen rund um ihr Äußeres immer ausgesetzt. | |
Was ist das Spezielle an Müttern? | |
Die Mutter galt sehr lange als asexuelles Wesen. Heilige und Hure standen | |
sich gegenüber, die Mutter war die Heilige. Medial hat sich das in den | |
vergangenen zwanzig Jahren geändert. Die Zuschreibungen für Frauen in Bezug | |
auf ihre Attraktivität hat es schon immer gegeben. Aber es ist auffällig, | |
dass diese mittlerweile sehr viel stärker in Bezug auf Mütter verhandelt | |
werden. Die MILF vereint die Assoziationen von Heiliger und Hure. | |
Woher kommt dieses Phänomen? | |
Die MILF ist ein Markt. Mit dem neoliberalen Zeitalter und der | |
Marktwirtschaft, die sich auf Geschlechterrollen und Klischees stürzt, | |
werden Mütter als Zielgruppe neu erschlossen. Die Körper von Frauen | |
verändern sich durch Schwangerschaften, und die Schönheitsindustrie macht | |
Geld mit den körperlichen Unsicherheiten der Frauen. Es gibt | |
Fitnessprogramme, die sich „MILF-Maker“ nennen. | |
Das heißt, in der Werbung wird mit der Selbstbestimmung der Frau gespielt, | |
die aber eigentlich nur eine Marionette der Werbung ist? | |
Genau. „MILF“ ist seit zehn Jahren das beliebteste Pornogenre. Die | |
Kombination von Mutter und Sexualität ist ein reizvolles Tabu. | |
Möglicherweise ist auch ein bisschen „Mama wird’s schon richten“ oder ei… | |
Sehnsucht nach einer Führung, bei der sich der Mann fallen lassen kann, mit | |
in dieser Fantasie verwoben. Vielleicht ist der MILF-Hype im Porno auch nur | |
die andere Seite der Medaille von „Fifty Shades of Grey“. Aber das ist ein | |
Wild Guess, der sicher genauer betrachtet gehört. | |
In Ihrem Buch stellen Sie andere Mütterbilder vor. Gibt es Vorbilder? | |
Ich spreche vermeintliche „schlechte“ Vorbilder an, also jene, die | |
historisch als Huren gebrandmarkt wurden, weil sie sexuell selbstbestimmt | |
leben wollten. Dabei taucht einerseits Lilith, die erste Frau Adams, auf. | |
In der feministischen Theologie wird sie als Ikone gehandelt. Auch die | |
Amazonen werden besonders popkulturell immer wieder als emanzipatorische | |
Vorbilder verarbeitet – wie zuletzt in „Wonder Woman“. Die Crux an der | |
Sache ist, dass diese alten Vorbilder in den Geschichten immer wieder für | |
ihr Verhalten bestraft wurden – mit Wahnsinn, Tod, Verbannung. Amazonen | |
wurden besonders gern „umgestimmt“, um sich wieder in ein heteronormatives | |
Weltbild einzufügen. Meine Alternative wären deshalb eher vielfältige | |
Lebensweisen, die nebeneinander friedlich koexistieren, anstatt eines | |
Ideals, das unerreichbar scheint. | |
Wäre eine MILF überhaupt möglich außerhalb unserer heteronormativen Welt? | |
Der Begriff ist stark an einen weißen, heteronormativen und patriarchalen | |
Kontext geknüpft. Kultureller Background und die ökonomische | |
Ausgangssituation spielen ebenfalls eine Rolle. Die MILF ist nur denkbar in | |
einem Umfeld, wenn sie ein Tabubruch ist. Dieser fehlt zum Beispiel bei | |
einer Teeniemutter, weil Sexualität und Jugend ohnehin zusammengedacht | |
werden. Oder bei einer lesbischen Mutter, weil Geschlechterhierarchie kein | |
Thema ist. | |
Frauen werden – meistens – durch Sex Mütter. Und sind dann aber keine | |
sexuellen Wesen? Das ist doch Paradox. | |
Ja, das ist recht spannend in unserem Kulturkreis. Da greift eben die | |
Kultur- und Religionsgeschichte ganz stark. Niemand möchte außerdem über | |
den Sex der eigenen Eltern nachdenken. Gleichzeitig ist es ein Thema unter | |
frischgebackenen Eltern: Hat man überhaupt noch welchen und, wenn ja, wie | |
oft? | |
Ändern sich denn sexuelle Bedürfnisse nach einer Geburt? | |
Die Bedürfnisse eines Menschen als sexuelles Wesen bleiben die gleichen. | |
Unsere sexuelle Biografie, unsere Sozialisation ist ja nicht weggewischt | |
dadurch, dass jemand ein Kind zur Welt gebracht hat. Aber die Zeit, die zur | |
Verfügung steht, ist natürlich weniger. Die Energiereserven sind andere. | |
Damit müssen Eltern erst mal klarkommen. Paradoxerweise finden sich in | |
Elternratgebern für die ersten Jahre mit Baby nirgendwo Hinweise für die | |
Stärkung und Aufrechterhaltung ihrer Beziehung und ihrer Sexualität. | |
Gleichzeitig wird der Kontext Elternschaft in Beziehungs- und Sexratgebern | |
oft ausgelassen. Eigentlich ist das grob fahrlässig für all die Ansprüche, | |
die wir heute an Partnerschaft stellen. Das Einzige, das ständig überall | |
verhandelt wird, ist, wie Frauen für Männer sexuell attraktiv sein können, | |
was sie draufhaben sollten, um ihren sexuellen Marktwert zu steigern. Als | |
ob Eltern keine anderen Sorgen hätten. | |
Sie beschreiben, wie viel Arbeit die Fuckability für Frauen bedeutet. | |
Während Männer unbearbeitete Dickpics verschicken. Woran liegt das? | |
Es liegt an patriarchalen Gesellschaftsstrukturen, in denen Frauen Objekte | |
und Männer Subjekte sind. Als Subjekt muss ich niemandem gefallen wollen. | |
Entweder nimmt man mich, wie ich bin, oder nicht. Als Objekt stehe ich | |
immer in Konkurrenz, und deshalb tu ich mir die Arbeit an. Das hat mit | |
Hierarchien zu tun. An Orten, die hierarchisch organisiert sind, gibt es | |
viel Konkurrenz. Konkurrenz bedeutet, dass ich mich mit anderen messen | |
muss. Wenn ich am oberen Ende der Hierarchie sitze, muss ich nichts | |
leisten. | |
Dann kann ich einfach ein Dickpic verschicken. | |
Genau, und dabei denken: „Deal with it“. | |
Wie können Frauen vom Objekt zum Subjekt werden? | |
Grundsätzlich sind wir natürlich alle Subjekte. Aber für die Öffentlichkeit | |
braucht es Sichtbarkeit bis an die Schmerzgrenze und damit verbunden eine | |
Portion Präpotenz, um einen Objektstatus zu überwinden. Wir sehen überall | |
an öffentlichen Plätzen Penisse auf Wände geschmiert. Vielleicht sollten | |
wir anfangen, parallel anatomisch korrekte Vulven an Bushaltestellen zu | |
schmieren oder uns als Frauen einfach mal zugestehen, mehr Raum | |
einzunehmen. Und das kann schon damit beginnen, sich nicht damit zu quälen, | |
welches Outfit den heute geblähten Bauch am besten kaschiert, sondern der | |
Welt einfach diese Normalität des menschlichen Körpers zuzumuten. Genauso | |
wie ein paar Härchen am Bein, anstatt bei 32 Grad in Leggings zu schwitzen. | |
Vielfalt und Normalisierung erreichen wir nur, wenn wir vermeintliche | |
Tabus vor den Vorhang holen und uns selbst zu handelnden Subjekten machen. | |
Wenn wir utopisch denken: Wir leben in einer Welt, in der es die Kategorien | |
Subjekt und Objekt nicht mehr gibt. Wie sähe unsere Sexualität aus? | |
Wir wären sehr viel freier und hätten weniger Diskussionen darüber, was | |
Konsens ist. Dazu viele unaufgeregte Gespräche darüber, wo unsere Grenzen | |
liegen. Uns würde es leichter fallen zu akzeptieren, dass Menschen | |
unterschiedlich sind und Menschen unterschiedliche Bedürfnisse haben. Wir | |
könnten menschliche Vielfalt besser akzeptieren. Wir würden weniger | |
Ängste entwickeln, die auf Mythen beruhen. Pornografie würde zurückgedrängt | |
werden, weil es weniger Tabus gäbe. Erotik und Sinnlichkeit wären dafür | |
präsenter. Sexualität wäre positiver besetzt und hätte weniger mit | |
potenziellen Gefahren zu tun. | |
Sie appellieren an die Überwindung von der MILF zur Fuckermother. Was | |
meinen Sie damit? | |
Den Begriff habe ich von einem feministischen Blog der Historikerin Lisa | |
Malisch. Sie stellt sich Fuckermothers als Menschen vor, die sich weigern, | |
einem unerreichbaren Ideal nachzulaufen. Je fehlerfreundlicher wir zu uns | |
selbst sind, desto weniger Stress werden wir haben, desto gelassener werden | |
wir. Und das tut uns und unserer Sexualität gut. | |
20 May 2018 | |
## AUTOREN | |
Mareice Kaiser | |
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