# taz.de -- Psychologin über Gleichberechtigung: „Neue Normen und Zwänge“ | |
> Die Psychologin Sandra Konrad hat darüber geschrieben, wie frei Frauen | |
> heute sind und wie gleichberechtigt – und wie wenig sexuelle Freiheit | |
> Selbstbestimmung bedeutet | |
Bild: „Tabu, Grenzen zu setzen“: die Hamburger Psychologin Sandra Konrad | |
taz: Frau Konrad, „die Frau als sexuell selbstbestimmtes Wesen“, schreiben | |
Sie, „ist eine Fata Morgana“. Wie meinen Sie das? | |
Sandra Konrad: Wenn eine Frau sich heute sexuell selbstbestimmt verhält und | |
dann eine Grenzverletzung stattfindet, wird ihr Verhalten hinterfragt und | |
kritisiert, nicht das des Mannes. Eine aktuelle repräsentative Umfrage im | |
Auftrag der EU-Kommission zeigt, dass knapp 30 Prozent der Europäer*innen | |
sagen, dass nicht einvernehmlicher Sex in bestimmten Situationen akzeptabel | |
sei. | |
Welche Situationen sind das? | |
Wenn die Frau „zu sexy“ gekleidet war, wenn sie freiwillig zu jemandem nach | |
Hause gegangen ist, wenn sie in der Vergangenheit viele Sexualpartner*innen | |
hatte oder wenn sie was getrunken hatte. Das ist alles Victim-Blaming. Dem | |
Opfer wird Schuld zugeschoben, der Täter bleibt erst mal unbehelligt. | |
Sie unterscheiden Freiheit von Selbstbestimmung. | |
Sexuelle Freiheit ist das, was die Gesellschaft uns erlaubt. Sexuelle | |
Selbstbestimmung ist, wie wir diesen Raum ausfüllen. Wir sprechen gern von | |
sexueller Befreiung. Viele vergessen, dass damit neue Normen und Zwänge | |
einhergehen, die wir heute in der extremen Sexualisierung der Frau sehen. | |
Sexuelle Selbstbestimmung wäre für mich, wenn Frauen genauso gut Ja wie | |
Nein sagen könnten, und wenn sie für keins von beiden beschämt oder | |
bestraft würden. | |
Warum das Buch? | |
Es gab nicht diesen einen auslösenden Moment. Das waren vielmehr | |
Beobachtungen im Alltag. Zum Beispiel, wie geschmeidig Frauen über Sexismus | |
hinweggehen, weil sie nicht als zickig gelten wollen. Oder wie Frauen zum | |
Schweigen gebracht werden: indem man sie nicht ernstnimmt, sie als sexuell | |
unattraktiv bezeichnet, wenn sie eine unbequeme Meinung vertreten, oder | |
ihnen mit Gewalt droht, wie es Netzfeministinnen im Internet erleben. Das | |
macht mich wütend und traurig zugleich. | |
Sind Sie bei der Recherche auch auf Abwehr gestoßen? | |
Ja. In meinem Bekanntenkreis wehrten viele Frauen das Thema | |
Gleichberechtigung als erledigt ab. Wenn ich sie dann fragte, warum das | |
Älterwerden für Frauen oft schlimmer sei als für Männer oder ob sie schon | |
mal eine sexuelle Grenzverletzung erlebt hatten, ebbte der Protest ab. | |
Wie reagierten die Männer? | |
Sie fühlten sich teils persönlich angegriffen, reagierten mit Wut, wenn ich | |
mit ihnen über die 2000-jährige Geschichte der Beherrschung der Frau | |
sprach. Es hat mich immer wieder geärgert, dass man Fakten über die | |
Zusammenhänge zwischen Sex, Geschlecht und Macht liefern kann – und die | |
will niemand hören. Da habe ich gedacht, ich arbeite das mal genau heraus – | |
ausgehend von jenen Epochen, in denen Männer das herrschende Geschlecht | |
waren, bis in die Gegenwart, in der Frauen verinnerlicht haben, was von | |
ihnen erwartet wird. | |
Ihre zentrale These. | |
Ja. Aus männlicher Herrschaft wurde weibliche Selbstbeherrschung, aus | |
gesellschaftlichen Forderungen wurden weibliche Wünsche. | |
Haben Sie auch Erfahrungen aus Ihrer Arbeit als Psychotherapeutin | |
verarbeitet? | |
Meine vorherigen Bücher über das emotionale Erbe in Familien und | |
Beziehungsmythen sind stark mit meiner therapeutischen Arbeit verknüpft. | |
Die Zitate meines aktuellen Buchs stammen aus Interviews mit Frauen, die | |
nicht meine Klientinnen waren. Allerdings haben mich die Aussagen an junge | |
Klientinnen der letzten Jahre erinnert. Da war oft Thema, wie schwierig es | |
ist, bei all den Normen eigene Bedürfnisse zu erkennen und dazu zu stehen. | |
Inwiefern? | |
Vielen jungen Frauen scheint es leichter zu fallen, sich den Bedürfnissen | |
des Mannes anzupassen, als individuelle Grenzen zu setzen, wenn sie etwas | |
nicht mögen. Und oft kennen sie ihre eigenen Bedürfnisse nicht sehr gut. | |
Freud hat ja vor über 100 Jahren gefragt: Was will das Weib? Und was | |
weibliches Begehren betrifft – da gibt es noch immer so viele Fragezeichen. | |
Sie haben mit 70 Frauen gesprochen, 18 bis 45 Jahre alt. | |
Meine Kernfrage war, wie frei und sexuell selbstbestimmt können Frauen | |
heute leben. Da waren besonders die Frauen zwischen 18 und 30 wichtig, | |
deren Erfahrungen ganz andere sind als meine: Wie ist es, in einer Zeit | |
aufzuwachsen, in der man mittels Pornografie aufgeklärt wird? In der Sex | |
einen so hohen Stellenwert hat, aber ihm oft keine emotionale Bedeutung | |
beigemessen wird. Wie ist es, wenn alle sagen, wir sind gleichberechtigt | |
und parallel Alltagssexismus, Frauenfeindlichkeit und sexualisierte Gewalt | |
alltäglich sind? | |
Wie sprechen die heute 20-Jährigen über Sexualität? | |
Viel freier als zu meiner Zeit. Überrascht hat mich dann aber diese | |
Diskrepanz: Alle sahen sich als sexuell selbstbestimmt. Gleichzeitig | |
erzählten sie, dass sie sich den Wünschen des Mannes anpassten, auch gegen | |
eigenes Unbehagen – jedenfalls bei Gelegenheitssex. In verbindlichen | |
Beziehungen entwickelt sich das oft gleichberechtigter. In unverbindlichen | |
Beziehungen aber war es wichtiger, dem anderen zu gefallen, als sich selbst | |
gut zu fühlen und eigene Bedürfnisse zu formulieren. | |
Die neuen Normen, die mit der sexuellen Freiheit einhergehen. | |
Ja. Frauen sollten in der Vergangenheit passiv und sexuell desinteressiert | |
sein. Die ideale Frau von heute soll sexuell aktiv sein und Gefühle und Sex | |
säuberlich trennen. Frauen dürfen alles, aber sie sollen bitte auch alles. | |
Und überschreiten daher eher ihre eigenen Grenzen? | |
In der Tat besteht das Tabu heute darin, Grenzen zu setzen. Ich hatte in | |
meinen Zwanzigern nicht das Gefühl, dass ich das nicht darf. Ich finde es | |
wunderbar, dass Frauen heute Sex genießen können, ohne irgendwelche | |
Treueschwüre leisten zu müssen. Viele junge Frauen trauen sich aber im | |
Umkehrschluss kaum zu sagen, wenn bei ihnen Gefühle ins Spiel kommen. Das | |
gilt als uncool, abhängig. | |
Schon im Studium haben Sie sich mit den Biografien von Prostituierten | |
befasst, auch im Buch ist Prostitution Thema. | |
Prostitution lehrt uns als Gesellschaft, dass die Frau eine Ware, dass der | |
weibliche Körper käuflich ist und dass der Mann über Geld die Macht hat. | |
Die ganzen Ausbeutungs- und Gewaltprozesse, die in der Prostitution laufen, | |
werden geleugnet. Man hört immer wieder die gleichen Argumente: dass es | |
immer schon so war. Dass es sonst mehr Vergewaltigungen geben würde. Und | |
die Mythen von der Happy Whore, der glücklichen Hure, die ihr Hobby zum | |
Beruf macht. | |
Was halten Sie von den Diskussionen um die selbstbestimmte Sexarbeiterin? | |
Wenn diese liberale Haltung an Ignoranz und Empathielosigkeit grenzt, macht | |
es mich wütend. Es gibt ja Studien darüber, und viele Gespräche mit | |
ehemaligen Prostituierten – auch ich habe welche geführt – belegen es: | |
Gewalt und Traumatisierung sind an der Tagesordnung. Auch Zahlen helfen da | |
immer ganz gut: Expert*innen schätzen, dass 60 bis 90 Prozent | |
Zwangsprostituierte sind. Die selbstbestimmte Studentin, die sich nebenbei | |
was verdient, liegt bei ungefähr zwei Prozent. | |
Promoviert haben Sie über die Weitergabe von Schoah-Traumata durch jüdische | |
Frauen. Was hat Sie daran interessiert? | |
Als ich 2006 promovierte, stieß auch dieses Thema auf Abwehr. Gerade in | |
Deutschland hieß es oft: Das ist doch alles vorbei. Aber es ist eben nichts | |
vorbei, weil die Geschehnisse nicht verarbeitet werden konnten. Inzwischen | |
ist das Phänomen der transgenerationalen Weitergabe von Traumata auch | |
jenseits der Fachwelt viel bekannter. | |
Was verbindet Ihre Arbeiten miteinander? | |
Mich interessiert immer: Wie werden wir so, wie wir sind? Welchen | |
Einflüssen sind wir ausgesetzt? Welche Auswirkungen hat Gewalt? Das | |
bedeutet auch, dass ich mir die abgespaltenen Schattenseiten unserer | |
Realität und Sozialisation ansehe. Ich möchte das ganze Bild sehen. Ich | |
will wissen: Wie frei sind wir wirklich? | |
6 May 2018 | |
## AUTOREN | |
Carola Ebeling | |
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Lesestück Interview | |
Schwerpunkt #metoo | |
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