# taz.de -- Der Mai '68 in Frankreich: Merci, Maman! | |
> Der Mai 1968 hat die Sexualität aus der Versenkung geholt. Frauen wollten | |
> frei Lust empfinden. Reich und Marcuse gesellten sich zu Marx. | |
Bild: Pariser Student*innen bringen sich Mitte Mai 68 in Position | |
Jeder weiß, dass der Mai 68 am 22. März 1968 begann, als eine Gruppe | |
Studierender den Sitzungssaal der Professoren ganz oben im | |
Verwaltungsgebäude der Universität Nanterre besetzte. Freilich hatte es | |
schon zuvor Proteste und Aktivitäten aller Art gegeben. So hatte die | |
studentische Campusinitiative für den Abend des 21. März Myriam Revault | |
d’Allonnes zu einer Vorlesung über Die sexuelle Revolution von Wilhelm | |
Reich eingeladen – eine gute Gelegenheit, um das Manifest des | |
Orgontheoretikers „Was ist sexuelles Chaos?“ als Flugblatt zu verteilen. | |
Ein Beispiel darin für sexuelles Chaos: „Durch erotische Filme die | |
Jugendlichen sexuell zu erregen, um Geschäfte zu machen, aber ihnen die | |
natürliche Liebe und Befriedigung, noch dazu mit Berufung auf die Kultur, | |
zu versagen.“ Hingegen war es nicht sexuelles Chaos, „nicht in Haustoren | |
wie die Jugendlichen unserer Kultur, sondern in hygienischen ungestörten | |
Räumen den Beischlaf ausüben zu wollen …“ | |
Aber das hatten wir doch schon mal! Genau ein Jahr zuvor hatte Boris | |
Fraenkel eine Vorlesung über Wilhelm Reich gehalten, begleitet vom selben | |
Traktat. Selbstredend konnte dieser Studiengegenstand den Dekan der | |
Fakultät nicht überzeugen – 29 Personen wurden in den darauffolgenden Tagen | |
der Uni verwiesen. Außerdem beschlossen einige Dutzend Studenten, die | |
Theorie in die Praxis umzusetzen: Sie übertraten die Vorschrift, die es den | |
männlichen Studierenden untersagte, abends das Wohnheim der weiblichen zu | |
besuchen, und verbrachten dort die Nacht. Am frühen Morgen kam die Polizei, | |
um sie herauszuholen, doch die Studenten verließen das Haus ohne | |
Zwischenfälle und gegen die Zusicherung, dass es keine Sanktionen gebe. | |
Somit hatte die „Bewegung 22. März“, die als Ausgangspunkt der | |
Studentenunruhen 68 gilt, in Wahrheit am 21. März 1967 begonnen, und zwar | |
mit der Forderung, sich nach 22 Uhr „in hygienischen ungestörten Räumen“ | |
lieben zu können. | |
Das Bild, das Robespierre von sich in der Geschichte hinterlassen hat, | |
verleitet einen keineswegs zu dem Gedanken, dass er Marquis de Sade gelesen | |
hätte. Ebenso wenig kann man sich vorstellen, dass die Pariser die Bastille | |
gestürmt hätten, um den Marquis zu befreien – der übrigens gar nicht mehr | |
dort einsaß. Auch Lenin dürfte sich nicht allzu sehr um das Thema | |
Sexualität gekümmert haben, es sei denn, um fleischliche Freuden der | |
bourgeoisen Dekadenz zuzuschreiben. Doch Daniel Cohn-Bendit, das Gesicht | |
der 68er-Bewegung in Frankreich, protestierte gegen den Vietnamkrieg, er | |
prangerte die politische Zensur und die Polizeigewalt an und er besuchte | |
Henri Lefebvres Seminar „Sexualität und Gesellschaft“ [Sexualité et | |
Société]. | |
Sicher, nach dem Mai kam der Juni, und Ende Juni fanden die unseligen | |
Parlamentswahlen statt. Als damaliger Anarchist hat Cohn-Bendit die Frage, | |
wie man verhindern kann, dass einige wenige sich Macht anmaßen, sicherlich | |
intensiver erörtert als die, wie man Macht ergreifen kann. Die Revolte im | |
Mai 68 hat keine Revolution nach sich gezogen, die mit 1917 vergleichbar | |
wäre. Aber sie ist und bleibt unauflöslich mit der „sexuellen Revolution“ | |
verbunden. Reich und Marcuse gesellten sich zu Marx. Vielleicht hätte | |
Robespierre die Guillotine nicht in Gang gesetzt, hätte er de Sade gelesen, | |
und ein etwas entspannterer Lenin hätte vielleicht keinen Roten Terror | |
ausgeübt. | |
## Mehr für Menschen verändert als Oktoberrevolution | |
Genau genommen hat die „sexuelle Revolution“ die sexuellen Praktiken | |
sicherlich weniger revolutioniert. Aber sie hat die Sicht der Gesellschaft | |
auf die Sexualität revolutioniert – und das ist immens. Diese Revolution | |
hat für die Menschen, für ihr soziales Leben in Gestalt des Alltagslebens, | |
das Henri Lefebvre meint, mehr erreicht als, ich will nicht sagen, die | |
Französische Revolution, aber auf jeden Fall als die Oktoberrevolution. | |
Pierre Viansson-Pontés Artikel „Wenn Frankreich sich langweilt“ [Quand la | |
France s’ennuie], eine Woche vor dem 22. März 1968 in Le Monde erschienen, | |
wird heute oft als Beispiel für Verblendung herangezogen. Er schreibt: „Was | |
macht unsere Jugend? Sie will wissen, ob die Mädchen von Nanterre oder | |
Antony freien Zugang zu den Zimmern der Jungs bekommen – ein beschränkter | |
Begriff der Menschenrechte.“ Anders gesagt: Nichts zu erwarten von unserer | |
nutzlosen Jugend, die sich mehr für Belanglosigkeiten interessiert als für | |
Politik. | |
Diese Auffassung steht für eine Geisteshaltung, die das Thema Sexualität | |
zwar nicht ignoriert, es aber trotzdem für vollkommen unernsthaft hält. | |
Unwichtig, unbedeutend. Bei einer Schwimmbadeinweihung am 8. Januar 1968 | |
auf dem Campus von Nanterre kritisierte Daniel Cohn-Bendit den Sport- und | |
Jugendminister François Missoffe dafür, dass er sich nicht für die | |
sexuellen Schwierigkeiten der Jugend interessiere. Der Minister empfahl dem | |
jungen Mann daraufhin einen Sprung ins Becken, er riet zu kaltem Wasser als | |
Gegenmittel, so wie andere früher Bromid zur Beruhigung verschrieben | |
hätten. Ein Sprung ins Wasser, und schon denkt man nicht mehr daran. | |
Der Journalist wie auch der Minister hinkten weit hinter ihrer Zeit zurück. | |
Ihre Äußerungen legen die große Kluft offen, eine Kluft zwischen Mächtigen | |
in den Medien und der Politik und dem, was in der Gesellschaft damals | |
bereits gelebt wurde. Der Pariser Mai hat die Gesellschaft nicht | |
umgekrempelt, aber er hat die Notwendigkeit aufgezeigt, dass die | |
Regierenden ihre Uhren richtig stellen. Trotz allem hätten Viansson-Ponté | |
und Missoffe im Hinterkopf haben sollen, dass die Nationalversammlung im | |
Dezember 1967 endlich die Empfängnisverhütung legalisiert hatte, was nicht | |
ohne Kampf abgegangen war. Doch sogar General de Gaulle hatte sich den | |
Argumenten von Lucien Neuwirth, dem Initiator des Gesetzes, gebeugt. | |
Dieses Gesetz bestätigte gewissermaßen die tiefgreifende Veränderung, die | |
in den Beziehungen zwischen Männern und Frauen begonnen hatte, vor allem | |
bei den Babyboomern, die nun in einem Alter waren, dass sie selbst Kinder | |
bekamen, und deren Lebensstil sich an der amerikanischen Gegenkultur | |
orientierte, vielleicht träumten sie ja vom Summer of Love in San | |
Francisco. | |
## Vor dem Gesetz, nach dem Gesetz | |
Heute denke ich, dass es für meine Freundinnen, die bürgerlicher | |
aufgewachsen sind als ich, sicher viel schwieriger war, von ihren eher | |
konservativen Eltern die Erlaubnis zu kriegen, die Pille zu nehmen. Ich | |
komme aus einem volkstümlichen Pariser Vorort, und sobald meine Mutter | |
merkte, dass ich sexuelle Kontakte hatte, schickte sie mich zum Arzt. Das | |
war 1966, als die Pille bereits unter dem Vorwand medizinischer Gründe | |
verschrieben werden konnte. Merci, Maman! Sie ermöglichte mir ein Jahr | |
Vorlauf vor dem Gesetz. | |
Vor dem Gesetz, nach dem Gesetz – die Vorschriften auf dem Campus von | |
Nanterre waren folgende: Nach 22 Uhr durften die Jungs Besuch bekommen, | |
während dies den Mädchen verboten war. Ich habe mir viele Gedanken über | |
diese absurde Ungleichbehandlung gemacht. Florence Prud’homme, heute | |
Frauenrechtlerin und Verlegerin, die 1968 auf dem Campus lebte, erinnert | |
sich, dass Studenten und Studentinnen intensive Kontakte hatten und dass es | |
in Nanterre eine Beratungsstelle für Familienplanung gab. Florence nimmt | |
mir darüber hinaus meine naive Vergesslichkeit in Bezug auf die damalige | |
Mentalität: Jungen Männern wurden Bedürfnisse zugestanden, die junge Frauen | |
gar nicht kannten. Frühere Generationen fanden es ja auch normal, dass ein | |
junger Mann seine ersten sexuellen Erfahrungen im Bordell machte, während | |
ein junges Mädchen seine Jungfräulichkeit bewahren musste. Beim Mann also | |
ist sexuelles Verlangen drängend, bei der Frau kann es warten. Eine Moral | |
und ein Begriff von Körperlichkeit, die eher ins 19. Jahrhundert gehören! | |
Der Dekan nannte die Studenten, die den Abend des 21. März 1967 bei den | |
Studentinnen verlängert hatten, „Eindringlinge“. Doch sie waren nirgendwo | |
eingedrungen – die Mädchen hatten ihnen die Tür geöffnet. Sie haben damals | |
deutlich gemacht, dass ihre Lust genauso drängend sein kann wie die der | |
Männer. Meine These ist einfach: „Lust ohne Fesseln“ [jouir sans entraves] | |
wäre nicht auf die Mauern geschrieben worden, hätten die Frauen nicht zuvor | |
beschlossen, dass sie ebenso frei Lust empfinden wollen wie die Männer. | |
Übersetzung: Gaby Wurster | |
12 May 2018 | |
## AUTOREN | |
Catherine Millet | |
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