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# taz.de -- Historikerin über 1968 in Frankreich: „Kein Ereignis im klassisc…
> Nicht alle zogen an einem Strang – aber ein kollektives politisches
> Gespräch gab es 1968. Ludivine Bantigny über Revolte, Solidarität und
> Frankreichs Linke.
Bild: Zerschlagung des Kapitals – ein Plakat von 1968
taz: Was hat Sie am meisten überrascht, als Sie für Ihr Buch Tausende von
Dokumenten in französischen Archiven und Bibliotheken gesichtet haben?
Ludivine Bantigny: Die unbändige Freude, die diesem Protest innewohnt. Die
Freude am Ausbruch aus dem Alltag. Und die immense Kreativität, die sich in
den Aktionen von 1967 und 1968 auf ganz unterschiedliche Art und Weise
ihren Weg bahnt – quer durch alle sozialen Milieus. Für kurze Zeit entsteht
Raum für politische Imagination, der nicht zwangsläufig von Theorien
beherrscht ist. In den Vorstädten etwa, den Banlieues, gibt es
Schüler*innen, die Labors für Pädagogik gründen, an der Pariser Opéra
treten Tänzer*innen in Streik, reflektieren ihre Rolle als Künstler*innen.
Der Protest ist eben, entgegen der landläufigen Meinung, alles andere als
„nur“ der Aufstand der Studentenschaft in Paris im Mai 68. Die Unruhen
beginnen bereits 1967 – in der Provinz.
Wie beschreiben Sie diese besondere Stimmung damals?
„Faire mai“: Dieser Slogan, auch wenn er eigentlich nur auf jenen Monat
abzielt, beschreibt gut die damalige Atmosphäre – zu deutsch „Mai machen�…
Diese ausgelassene Stimmung, gepaart mit Ernsthaftigkeit und immer wieder
dem unmittelbaren Erleben von Gefahr: Das Gefühl ist da, an etwas genuin
Politischem, ja Historischem teilzunehmen.
1968 hat viele Facetten, welche sehen Sie in Frankreich?
Es ist ein Jahr, das sich auf vielen Ebenen abspielt – 68 ist kein Ereignis
im klassischen Sinn. Menschen mobilisieren sich quer durch alle sozialen
Schichten, über Wochen und Monate. Das Einzigartige an der Situation in
Frankreich ist der Generalstreik im Mai/Juni 68. Einen solchen hat es, auch
global betrachtet, weder davor noch danach gegeben. Über zehn Millionen
Streikende: Bäcker wie Krankenschwestern, Fabrikarbeiterinnen wie
Taxifahrer, Schüler wie Marktfrauen. Immer wieder entsteht in dieser Zeit
ein Mosaik aus Situationen – denn die Motivationen der Protagonist*innnen
und Unterstützer*innen sind selten deckungsgleich.
Knapp hundert Jahre nach den basisdemokratischen Tagen der Pariser Kommune
von 1871 wollen im Mai 68 nicht wenige diese kollektive Aktion wieder
aufnehmen. Es gibt klassische Revolutionär*innen, die einen Umsturz aller
Autoritäten wollen – und es gibt die, die sich „nur“ für den Generalstr…
engagieren, für mehr Lohn und kürzere Arbeitszeiten kämpfen. Damals sind
fast 50 Arbeitsstunden pro Woche noch die Regel. Alles in allem existiert
nicht der eine gemeinsame Strang, an dem die Protestierenden ziehen.
Gab es deshalb keinen Umsturz der Verhältnisse?
„Wir haben uns das Wort erobert, wie 1789 die Menschen sich die Bastille
erobert haben“ – in diesem anonymen Zitat eines Besetzers des Pariser Odéon
liegt für mich ein Schlüssel zum Verständnis dieser Zeit. Es ist, als wenn
damals ein kollektives politisches Gespräch, eine gewaltige
gesellschaftliche Diskussion stattfindet, losgelöst von Konventionen und
Klassenbewusstsein. Karl Marx hat in Bezug auf die Pariser Kommune von 1871
sinngemäß gesagt, das Wichtigste an ihr sei gewesen, dass sie existent war,
nicht, was sie genau bewirkt hat. Das ließe sich für 1968 ebenso
formulieren.
Welche Rollen haben Frauen auf den Bühnen des französischen 68 gespielt?
Weltweit sind die Bilder von damals von Männern dominiert.
Stimmt, und auch bei Ton- oder Filmaufnahmen sind es fast immer Männer, die
das Wort ergreifen, sich öffentlich äußern oder Reden halten. Dabei sind
etwa französische Arbeiterinnen 1968 in den Textilfabriken sehr oft in der
Mehrheit. Auch sie streiken, wie übrigens viele Bäuerinnen – doch bleiben
sie auf den ersten Blick in ihrer überkommenen Rolle des nach außen
zurückhaltenden Wesens. Dabei ist das Jahr – und das wissen wir aus
authentischen, berührenden Originalquellen – für viele Mädchen und Frauen
eine Befreiung und ein Aufbruch in Richtung einer lange schon überfälligen
Emanzipation. Bei meinen Recherchen fand ich allerdings in ganz Frankreich
nur eine einzige politisch aktive, explizite Frauengruppe an der Pariser
Sorbonne.
Woher kommt die Zurückhaltung?
Die französische Frauenbewegung liegt vergleichsweise Ende der 1960er Jahre
zurück, sie ist nach außen wenig aktiv. Women’s Lib wie in den USA, reine
Frauendiskussionsgruppen oder die Lebenskommunen in Westdeutschland: Das
gibt es in dieser Form fast noch gar nicht, das entwickelt sich hier erst
ab 1970. Die katholische Kirche, aber auch die zu der Zeit sehr
erfolgreiche Kommunistische Partei haben 1968 auf bestimmte Milieus noch
starken ideologisch-moralischen Einfluss.
In welcher Form?
Zum Beispiel vertritt die Kommunistische Partei Frankreichs damals das Bild
von der „arbeitenden Mutter“, mit Betonung auf der Mutter. Die verdient
dann im Durchschnitt 25 Prozent weniger als der arbeitende Vater. Und die
katholische Kirche etwa verteufelt Sex vor der Ehe als Teufelswerk. Auch
sollte nicht vergessen sein, dass das Wahlrecht für Frauen in Frankreich
erst seit 1945 existiert.
Hat der Mai 1968, hat 1968 eine sexuelle Revolution angestoßen?
Für Frankreich zumindest bezweifle ich das. Hier ist das wie auch immer
gelagerte Geschlechtliche zu dem Zeitpunkt noch nicht wirklich ein
politisches Thema. Ja, es gibt da solche Graffiti wie „Plus je fais la
révolution, pluis j’ai envie de faire l’amour“ (Je mehr Revolution ich
mache, desto mehr möchte ich Liebe machen), doch das sind einfach Sprüche,
an die Wand geworfen. Meine Recherchen haben ergeben, dass die sexuelle
Frage, außer in Kreisen der damaligen libertären Situationisten, erst mal
marginal blieb. Und das landläufige Klischee, dass 1968 sozusagen das Bett
bereitet hat für eine egozentrische Permissivität, die seitdem weltweit den
heute vorherrschenden Neoliberalismus befördert, erscheint vor diesem
Hintergrund noch hanebüchener.
1968 hat also keine Individualisierung der Lebensstile angeschoben?
Ich kann mir nicht ein Noch-mehr an kollektiven Aktionen, an Solidarität
vorstellen, als das, was im Mai 68 in Frankreich abgeht. Das Gemeinsame,
die Projekte stehen im Vordergrund, nicht das eigene Ego. Aber es beginnt
damals etwas, was ich mit dem soziologisch und psychologisch geprägten
Begriff der Individuation beschreibe: Menschen übertreten Normen und Werte,
die sie vorher ungefragt übernommen hatten. Und sie haben eine fast
diebische Freude daran, sich direkt am politischen Prozess zu beteiligen.
„Tout est politique“ heißt ja auch ein Slogan damals: „Alles ist
politisch“. Wer diese Strömung heute herunterspielt, ja verächtlich macht,
der hat schlicht Angst, dass es ein neues 68 geben könnte. Dass wieder eine
soziale Explosion passiert. Eine Explosion, in der die Menschen komplett in
Streik treten und ihre von Konsum auf Kosten anderer und sehr oft
Ausbeutung geprägten Lebensbedingungen hinterfragen.
Wie sehen Sie die Chancen dafür?
In Frankreich haben wir einen Sommer der sozialen Auseinandersetzung mit
zahlreichen Demonstrationen vor uns. Viele Menschen fühlen sich bedroht vom
immer rechter sich gebärenden Durchmarsch von Macron und seiner Mannschaft.
Aber man darf nicht vergessen, dass die Linke in Frankreich zersplittert
und extrem geschwächt ist – und soziale Bewegungen wie die Gewerkschaften
uneins sind. Sie haben im Vergleich zu 1968 auch viel weniger Einfluss auf
die Arbeiterschaft. Außerdem haben viele Menschen Angst, ihren Job zu
verlieren: Unsere Arbeitslosenquote ist immer noch vergleichsweise hoch.
Und die Student*innen? 1968 stammen die meisten aus der abgesicherten
Mittel- und Oberschicht. Der Anteil der Arbeiterkinder etwa liegt damals
bei unter zehn Prozent. Meine Student*innen heute müssen fast alle neben
der Uni jobben, um sich zu finanzieren. „Ich kann es mir nicht leisten, zu
protestieren“: Das höre ich oft.
Was antworten Sie heutigen Kritiker*innen der damaligen 68er-Bewegung?
Ich glaube, es geht darum, die vielen Wahrheiten jener Zeit aufzuzeigen, es
gibt nicht die Wahrheit über 1968. Wenn jemand, wie der Ex-68er und schon
lange rechts stehende Philosoph Alain Finkielkraut darüber sagt: „Tout
détruit, rien construit“, also „Alles zerstört, nichts erschaffen“, dann
ist das eine armselige Negierung vieler politischer und sozialer
Errungenschaften, die erst durch diese Bewegung ins Rollen kamen. Auch die
Ikone schlechthin von 1968, Daniel Cohn-Bendit, betreibt aus meiner Sicht
eine aberwitzige PR, geht es um diese Zeit. „Forget 68“ ist sein Slogan,
mit dem er nun seit zehn Jahren hausieren geht. Ich stimme Cohn-Bendit nur
in einem zu: Die Zeiten sind nicht dieselben heute. Sie zeigen aber an,
dass wir wieder, wie im Mai 1968, am Anfang eines neuen, hoffentlich
diskursiven Weges stehen.
10 May 2018
## AUTOREN
Harriet Wolff
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Schwerpunkt 1968
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Solidarität
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Streik
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