# taz.de -- Annie Ernaux über 1968 in Frankreich: Fantasien wurden Wirklichkeit | |
> Die Literaturnobelpreisträgerin 2022 erinnert sich an die Proteste des | |
> Jahres 1968 in Frankreich. Die Zeit hat sie wie nichts anderes berührt. | |
Bild: Erfahrungen für ein ganzes Leben: der revolutionäre Pariser Samstag am … | |
Dieser Text von Annie Ernaux erschien erstmals im Mai 2018 in einer | |
Sonderausgabe der taz und der französischen Tageszeitung Libération zum 50. | |
Jahrestag der Proteste im Mai 1968 in Paris. Annie Ernaux wurde soeben | |
[1][der Literaturnobelpreis 2022 zugesprochen]. Aus diesem Anlass | |
veröffentlichen wir den Text erneut. | |
Ich schicke gleich voraus, dass ich keine genaue Erinnerung an diesen Tag | |
habe, auch nicht an das, was im Quartier Latin am Abend zuvor passiert war: | |
äußerst gewaltsame Zusammenstöße zwischen der Polizei und extrem linken | |
Studenten, die zu über 500 unmittelbaren Festnahmen führten. | |
1968 lebte ich weit weg von Paris in einer Kleinstadt in den Alpen, die | |
nächste Uni war zwei Stunden mit dem Zug entfernt, und ich war keine | |
Studentin mehr. Als ich Ende der siebziger Jahre in die Pariser Region kam, | |
traf ich so viele Leute, die erzählten, dass sie dabei gewesen seien – in | |
Nanterre, an der Sorbonne, auf den Barrikaden in der Rue Gay-Lussac, bei | |
der Besetzung des Odéon, dass sie Vollversammlungen und Demos besucht, | |
Parolen geschrien, Pflastersteine geworfen hätten –, dass ich vage Trauer | |
empfand, weil ich nicht dort gewesen war, wo man damals sein musste, weil | |
ich streng genommen nichts mitbekommen hatte, jedenfalls nicht das große | |
Bild. | |
Ich beneidete diese Leute. Sie vermittelten den Eindruck, dass sie | |
innerhalb eines Monats so viele Erfahrungen gesammelt hatten, dass es für | |
ein ganzes Leben reichte. Ich war damals Lehrerin in der Provinz, hatte | |
zwar den Schulstreik an meinem Gymnasium mitgemacht, war aber wegen meiner | |
Schwangerschaft auf keine einzige Demo gegangen. In jenem Monat hatte ich | |
mir spontan zwei Umstandskleider gekauft. Wie es zu der Zeit üblich war, | |
wollte ich meinen Bauch verbergen. Ich hatte das Gefühl, ich hätte nichts | |
zu sagen, ich war nicht aktiv an den Ereignissen beteiligt gewesen, sie | |
hatten mich lediglich berührt. | |
Berührt jedoch, wie kein anderes Ereignis zuvor es konnte und wohl je | |
wieder schaffen wird. Ich bin mir dessen vierzig Jahre später bewusst | |
geworden, als ich das Buch „Die Jahre“ schrieb und beim Mai 68 angekommen | |
war. Im Zusammenhang mit erinnerten Bildern – ein Spruchband „Fabrik | |
besetzt“ (Usine occupée) neben dem Supermarkt Carrefour in Annecy; die | |
Schulmensa, in der sich alle Schüler versammelt hatten und wo ihnen die | |
Sprachlehrerin die Gründe für die Revolte der Soziologiestudenten von | |
Nanterre erklärte – im Zusammenhang mit unbedeutenden persönlichen | |
Vorkommnissen kamen die Verwunderung, die Verblüffung, das Warten, das | |
Prickeln der Hoffnung und letztlich die Entmutigung jener Tage wieder zur | |
Gänze hoch. | |
Ein Gefühl sehe ich heute all den anderen Gefühlen in jenem Mai zugrunde | |
liegen – dass die Ereignisse nicht einzuholen waren, dass die Wirklichkeit | |
der Vorstellung immer voraus war oder dem, was man sich bis dahin gar nicht | |
vorzustellen gewagt hatte: die geheiligten Orte der Gesellschaft, Bildungs- | |
und Kultureinrichtungen, von allen möglichen Leuten besetzt; die | |
fortschreitende und schließlich totale Niederlegung der Arbeit; freie | |
Meinungsäußerung. | |
Anders gesagt, die Fantasien wurden Wirklichkeit. Ich kann mich nicht | |
erinnern, dass ich das Wort „Revolution“ gehört hätte. Mit einem festen | |
Begriff das, was geschah, zu benennen war nicht nötig oder nicht möglich. | |
Auch nicht, es zu denken. Es genügte, es zu leben. | |
## Der alte Traum, dem Beginn beizuwohnen | |
Will ich mich an genau diesen 4. Mai zurückversetzen, ist es, als wolle ich | |
wie nach einer überwältigenden Liebesgeschichte zum ersten Augenblick des | |
Kennenlernens zurückkehren, wenn man nicht weiß, wie alles weitergeht; es | |
ist der alte Traum, dem Beginn zu beizuwohnen, im Keim der Ereignisse zu | |
stecken. | |
Vor dem Höhepunkt am 13. Mai und dem Streik von zehn Millionen Menschen, | |
vor den beunruhigenden Zeichen und den harten Verhandlungen in der Rue de | |
Grenelle, bevor de Gaulle im Fernsehen wie ein Truppenbefehlshaber auftrat | |
und das „Chaos“ geißelte und vor dem pechschwarzen Zug der gaullistischen | |
Gegendemonstranten auf den Champs-Élysées mit André Malraux als grinsendem | |
Hampelmann an der Spitze, bevor das Benzin wieder die Zapfsäulen für die | |
Ausfahrt in die Pfingstferien füllte, floss kein Verkehr mehr. | |
An diesem Samstag, dem 4. Mai, als klar wird, dass aus den „Unruhen“ an den | |
Universitäten, denen zunächst nur wenig Bedeutung beigemessen wurde, eine | |
„Revolte“ wurde, empfinde ich unter anderem ein Erstaunen, das schnell | |
wieder verfliegt, an das ich mich aber später erinnern werde: Wer konnte | |
voraussagen, dass die Gefährdung der gaullistischen Macht aus dem | |
Studentenmilieu kommen würde? Was war geschehen, seit ich nur zwei Jahre | |
zuvor die Zulassung als Sekundarschullehrerin bekommen und die Uni | |
verlassen hatte? | |
In Rouen, Bordeaux, Grenoble herrschte Ruhe in den Auditorien, die Dozenten | |
leierten ins Schweigen hinein ihre Skripte herunter, die sie zehn Jahre | |
zuvor verfasst hatten. Der massive Protest gegen den Algerienkrieg, | |
Schlägereien zwischen linken und extrem rechten Studenten hörten an den | |
Uniportalen und an den Türen der Mensen auf. Was André Breton in seinem | |
Roman „Nadja“ über die Leute geschrieben hat, die er in der Rue La Fayette | |
aus Büros und Werkstätten kommen sah – dass sie bestimmt noch nicht | |
diejenigen seien, denen man eine Revolution zutrauen würde –, hätte ich | |
damals auch über meine Kommilitonen sagen können. | |
## Weiter, immer weiter | |
Breton starb 1966 in aller Stille in Paris, von ihm stammt auch jener Satz, | |
den ich Anfang Mai 1968 ganz gewiss nicht vergessen hatte: „Das Ereignis, | |
von dem jeder das Recht hat, eine Offenbarung des Sinns seines Lebens zu | |
erwarten, dieses Ereignis […] wird nicht durch Arbeit hervorgerufen.“ | |
Ich kann nicht vorhersehen, dass diese Botschaft innerhalb von ein, zwei | |
Wochen in allen möglichen Varianten auf Mauern stehen würde. Auch nicht, | |
dass die Studentenrevolte schließlich den Aufstand der Arbeiter und | |
Angestellten nach sich ziehen würde, die sich einen feuchten Kehricht um | |
die Aufrufe der Gewerkschaften kümmerten, und dass sie um ein Haar den | |
Präsidenten der Republik gestürzt hätte. Ich bin einfach nur in gespannter | |
Erwartung, habe das heimliche, brennende Verlangen, dass „es weitergeht“. | |
Heute sind wir offenbar viele, die den Atem anhalten und dieser Erwartung | |
keinen Ausdruck zu geben wagen, die vermutlich von einem magischen Gedanken | |
abhängt, von einem neuen Mai 68. Die Anzeichen aber dafür sind bestreikte | |
Universitäten, brutales Eingreifen der Polizei dagegen, der Arbeitskampf | |
der Eisenbahner. | |
Man erlebt „dasselbe“ immer wieder, etwa jedes Mal, wenn Schüler und | |
Studenten auf die Straße gehen: 1986 gegen das neue Hochschulgesetz, das | |
den Universitäten eine Auswahl ihrer Studierenden ermöglichen sollte, 2006 | |
gegen das neue Arbeitsgesetz, das den Kündigungsschutz bei der | |
Ersteinstellung für zwei Jahre aussetzen wollte – aber, das muss man | |
betonen, nicht 2005, als die Jugendlichen aus der Banlieue Autos in Brand | |
setzten, und zwar wie damals die jungen Leute in der Rue Gay-Lussac. | |
Die Revolution, die kommen wird, wird eine Gestalt annehmen, die wir uns | |
noch nicht vorstellen können. Denn die Herrschaftsverhältnisse sind noch | |
dieselben, die Ungerechtigkeit nimmt zu, und der Wunsch nach einem anderen | |
Leben lässt sich nicht ausmerzen. | |
Übersetzung: Gaby Wurster | |
12 May 2018 | |
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