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# taz.de -- Nachruf für Hans-Joachim Lenger: Denker in steter Unruhe
> Geprägt von 1968 und Poststrukturalismus: Der Hamburger Philosoph und
> Kunsttheorie-Professor Hans-Joachim Lenger ist verstorben.
Bild: Nahm Marx als Ausgangspunkt für unermüdliche Dekonstruktionsarbeit: Han…
Hamburg taz | Dass der Kapitalismus den Horizont seiner eigenen Zukunft
längst hinter sich gelassen hat, wurde von Hans-Joachim Lenger, Philosoph,
Autor und Professor für Theorie und Geschichte an der Hochschule für
bildende Künste Hamburg (HfbK), niemals in Zweifel gezogen. In immer neuen
sprachlichen Wendungen stellte er einer aus den Fugen geratenen politischen
Gegenwart ihre [1][niederschmetternde Diagnose] und hob sich dabei deutlich
von einer um sich greifenden, durch gängige Floskeln geprägten und
entschärfenden Kapitalismuskritik ab.
Lengers Rede legte ökonomische und semiotische Aporien im Aktuellen frei,
deren Spuren bis weit in die Geschichte der Philosophie zurückreichen. Als
vermeintlicher Vordenker einer in die Jahre gekommenen politischen Linken
wollte er dabei gewiss nicht gelten.
Kommt die politische Revolte doch – wie er noch in seinem letzten Vortrag
an der HfbK im November 2018 betonte – insofern stets „zu früh“, als dass
sie sich einer konzeptionellen Vorwegnahme entzieht: „Verfrüht, wie es
ist“, so Lenger, „lässt sich das revolutionäre Ereignis […] weder planen
noch inszenieren. Es untersteht keiner Kontrolle, es folgt keinem Kalkül,
es lässt sich von keinem Plan evozieren, und stets überrascht es selbst die
Revolutionäre, die auf es hinarbeiten. Wo es eintritt, da ereignet es sich
von selbst, sponte.“
## Keine Nostalgie!
Lengers philosophische Schriften und seine Praxis als Hochschullehrer waren
durch die politischen Ereignisse des Mai 1968 geprägt, deren theoretische
Reflexion er immer wieder gegen ihre eigenen Voraussetzungen kehrte, um
nicht in einer nostalgischen Musealisierung vergangener Zeiten hängen zu
bleiben.
Neben Jacques Derrida und Martin Heidegger galt ihm hierbei besonders
Jean-Luc Nancy als philosophischer Stichwortgeber, mit dem Lenger das
Vorhaben teilte, das Erbe des Marxismus als Ausgangspunkt einer
unermüdlichen begrifflichen Dekonstruktionsarbeit anzunehmen. „[2][Marx
zufolge]. Die unmögliche Revolution“ lautet dementsprechend der Titel von
Lengers 2004 im Transcript-Verlag erschienenen philosophischen Hauptwerk –
ein Titel, der seinem gesamten Denken als Motto vorangestellt werden kann.
Lenger zog aus den eigenen Erfahrungen während der Studentenrevolte die
Konsequenz, das philosophisches Denken als politisch-ästhetische Praxis
aufzufassen und ein Fragen nach den ereignishaften Beziehungen von Kunst
und Politik affirmativ voranzutreiben. Eine erste Bilanz zog in dieser
Hinsicht die in den 1980er-Jahren an der HfbK erschienene [3][Zeitschrift
Spuren], die Lenger sowohl konzeptionell als auch redaktionell entscheidend
prägte.
## Beeindruckendes Experimentierfeld
Über knapp zehn Jahre wurden hier Beiträge von Autorinnen und Autoren
versammelt, die sich unter anderem als Versuch zeigten, „Ästhetik“ und
„Aisthesis“, eine Theorie der Kunst und eine solche der sinnlichen
Wahrnehmung aufeinander zu öffnen. Auf diese Weise entstand ein
Experimentierfeld verschiedener intellektueller Schwerpunktsetzungen und
Schreibweisen, deren Vielfalt bis heute beeindruckt.
Das Archiv der Zeitschrift, online verfügbar, legt nicht zuletzt ein
Zeugnis von Lengers Fähigkeit ab, ein offenes Milieu des Denkens
einzurichten, in dem sich der Diskurs spontan und unreglementiert entfalten
kann. In den vergangenen Jahren führte er diesen Anspruch in dem von ihm
initiierten [4][Rundfunkprojekt „Agoradio“] weiter, das eine vielschichtige
Theorieproduktion mit künstlerischen Montagetechniken verband.
Auch seine Lehrtätigkeit an der HfbK war von einer Überlagerung
künstlerischer, philosophischer und politischer Fragestellungen bestimmt
und dabei stets darauf bedacht, deren innere Spannung nicht zugunsten des
einen oder anderen Aspekts aufzulösen. Das Denken wurde von Lenger auf
diese Weise immer in Unruhe gehalten. Seit Beginn der 1980er-Jahre hat er
die Studierenden der HfbK zu einer kritischen Reflektion der eigenen
künstlerischen Praxis verführt.
## Virulente Leerstelle
Hans-Joachim Lenger starb unerwartet am 25. Februar im Alter von 67 Jahren
in Hamburg. Die Leerstelle, die sein Tod hinterlässt, wird nicht zuletzt in
der Frage virulent werden, wie sich die Ereignishaftigkeit des Politischen
in Zukunft philosophisch konzipieren lässt. Ist doch hier plötzlich eine
Denkbewegung abgerissen, die ihre Kraft stets aus der Konzentration auf das
Zukommende und aktuell Bevorstehende gewonnen hat.
Hans-Joachim Lengers Werk bleibt zu entdecken und wiederzuentdecken. Es ist
Ausdruck eines schon jetzt schmerzlich vermissten Gestus des
philosophischen Denkens, das sich den politischen Verwerfungen der
Gegenwart stets auf Neue als gewachsen gezeigt hat.
13 Apr 2019
## LINKS
[1] /!220777/
[2] https://www.transcript-verlag.de/978-3-89942-211-5/marx-zufolge/
[3] http://archiv-der-spuren.hfbk-hamburg.de/
[4] http://www.agoradio.de/
## AUTOREN
David Wallraf
Nicola Torke
Benjamin Sprick
## TAGS
Theorie
Marxismus
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Entfremdung
Schwerpunkt 1968
Schwerpunkt 1968
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