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# taz.de -- Louis Althusser und die Neue Linke: Baumeister der Theorie
> Der französische Philosoph und Vordenker des Poststrukturalismus befasste
> sich ganz unorthodox mit Marx: Jetzt wäre er 90 Jahre alt geworden.
Bild: Theoretische Brücke bei Althusser: Marxismus und Strukturalismus.
Selbst das allgegenwärtige 68er-Gedenken kann das Schweigen kaum brechen,
das auf dem Werk des französischen Marxisten Louis Althusser liegt. Der
poststrukturalistische Philosoph war unter anderem Lehrer von Michel
Foucault und Jacques Derrida. Heute wäre er 90 Jahre alt geworden - und ist
allenfalls noch einigen Akademikern bekannt. Und auch die erinnern außer
dem Namen meist nur noch den biografischen Skandal, in dem Althusser
untergegangen ist: Althusser, das ist doch der Strukturalist, der seine
Frau ermordet hat.
Aber man sollte sich nie dazu verleiten lassen, die Geschichte von hinten
zu erzählen. Althussers Lebenswerk ist nichts weniger als der Versuch einer
konzeptionellen Demokratisierung des Marxismus, die er auf dem Umweg über
das Feld strukturalistischer Theorie zu erreichen hoffte. Das Scheitern
dieses Unterfangens war in seiner Epoche nicht unbedingt absehbar. Einer
Epoche, in der "der Strukturalismus" so en vogue war, dass selbst der
Trainer der französischen Fußballnationalmannschaft in einem Interview
erklärte, er werde seine Mannschaft "nach strukturalistischen Prinzipien"
organisieren.
Politisch ist Althussers Ausgangspunkt die "Krise des Marxismus", ausgelöst
durch die realsozialistische Autokratie. In der Transformation der
kommunistischen Partei in eine "Herrschaftsmaschine nach dem Muster
staatlicher und militärischer Apparate" sieht er die Hauptursache des
Stalinismus. Um eine Veränderung herbeizuführen, sieht er "keine andere
Form möglichen politischen Eingreifens als eine rein theoretische". Man
müsse die absurden Lesarten Marx durch den offiziellen Marxismus gegen
diesen wenden.
Althusser gelingt es in seinen Texten der 60er-Jahre, im orthodoxen Gestus
eine völlig unorthodoxe, kreative Lektüre der marxistischen Klassiker zu
entwickeln. Er bedient sich ausgiebig im Werkzeugkasten der postmodernen
Diskursanalyse, deren Entstehen er damit maßgeblich vorantreibt. Der
Ausfallschritt über die Theorie bringt ihm allerdings eher
wissenschaftlichen Ruhm ein als politische Veränderungen. Tatsächlich geht
es in den frühen Texten weit mehr um Erkenntnistheorie als um Tagespolitik.
Seine Thesen finden zwar weltweit Verbreitung, der Flirt mit dem
Strukturalismus wird aber im marxistischen Lager oft als
"antihumanistische" Provokation gewertet. In Frankreich heißt der große
"humanistische" Gegenspieler Althussers Jean-Paul Sartre. Es ist das Beben
von 1968, das die Marxismen auf die Probe stellen wird.
Während der von ihm als "wunderbaren Aufstand von 68" begrüßten Revolte
befindet sich Althusser in der Psychiatrie. Seit den 40er-Jahren ist das
Krankenhaus beständiger Rückzugsort während seiner manisch-depressiven
Anfälle. Dabei ist er nicht wirklich ein Elfenbeinturm-Wissenschaftler:
"Ich erhielt sogar, mit großer Mühe an Entschlusskraft, wirkliche
Gummiknüppelhiebe bei den Demonstrationen […]. Diese Kampf- und
Aktionsgemeinschaft, und ich in ungeheuren Massen verloren, endlich war ich
bei mir." Die Spontaneität der französischen Mai-Unruhen, die innerhalb
einer Woche die Entwicklung überholen, die in der BRD mehrere Jahre Vorlauf
hat, erschüttert kurzzeitig das strukturalistische Paradigma. "Die
Strukturen sind nicht auf die Straße gegangen" wird zur Losung der
"marxistischen Humanisten", die sich in ihrem Kampf gegen die vermeintliche
Statik der strukturalen Philosophie bestärkt sehen. Diese Meinung überwiegt
damals auch bei den Studenten: Sartre ist der Intellektuelle, der in der
besetzten Sorbonne reden darf.
"Althusser à rien" (Althusser taugt nichts) steht auf den Wänden des Campus
von Nanterre. Im Wortgefecht während eines Vortrags von Foucault 1969 soll
der Psychoanalytiker Jacques Lacan, der Dalí der Strukturalisten, dem
entgegenwerfen, dass die Mai-Ereignisse gerade "das Auf-die-Straße-Gehen
der Strukturen" bewiesen. Letztlich bleibt der Eindruck, dass 1968 in Paris
"ein großer, fehlgeschlagener Traum war, als jeder glaubte, dass man unter
den Pflastersteinen die Weichheit des Sandes spüren konnte", wie es
Althusser in seiner Autobiografie formuliert.
Die im Verlauf der Revolte politisierten Studenten werden bald Sartre
liegen lassen und stattdessen Althusser lesen. Er bietet eher Begriffe für
die Lösung des Problems des französischen 1968 an: das Scheitern einer
Verbindung von Arbeiterbewegung und der Neuen Linken. Erst mit der
Zeitenwende Anfang der 80er-Jahre wird Louis Althusser gemeinsam mit
Marxismus und Strukturalismus in die Bibliotheken verbannt werden.
Viele haben ihn seither belächelt. Ein Don Quichotte, der sich in den
Mühlsteinen der kommunistischen Partei aufreiben ließ. Aber auch wenn
Althusser die Umsetzung seiner politischen Ziele verwehrt geblieben ist,
haben seine Texte theoretische Brücken zwischen scheinbar unvereinbaren
Welten gebahnt. Er ist heute der einzige "verschwindende Vermittler"
(Slavoj Zizek) zwischen Marxismus und dem seit einiger Zeit
wiederauferstandenen Poststrukturalismus, der von einer Rückkehr zu
Althusser nur profitieren könnte.
16 Oct 2008
## AUTOREN
Timm Ebner
## TAGS
Theorie
Michel Foucault
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