# taz.de -- Literaturnobelpreis für Annie Ernaux: Die Sezierende | |
> Annie Ernaux hat viel dazu beigetragen, dass sogenannte Frauenthemen ins | |
> Zentrum der Literatur rücken. Der Nobelpreis für sie ist auch eine | |
> literarische Richtungsentscheidung. | |
Bild: Schambesetzt, aber funkelnd: Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux | |
In einem Essay erinnert sich Annie Ernaux an zwei Sätze, die ihr Vater in | |
ihrer Kindheit zu ihr gesagt hat. „Bücher, das ist was für dich. Ich | |
brauche sie nicht, um zu leben.“ Ihr Vater war Kneipenwirt, mit zwölf hat | |
er auf einem Bauernhof gearbeitet. „Diese Worte“, schreibt Ernaux, „haben | |
die Zeit überdauert, sie stecken tief in mir. Wie ein Schmerz oder eine | |
unerträgliche Wirklichkeit.“ | |
In dieser kleinen Szene steckt viel von dem Verfahren, mit dem diese | |
Autorin zuletzt tiefen Eindruck bei vielen Leser*innen hinterlassen und | |
darüber hinaus bei vielen Schriftsteller*innen so etwas wie zumindest | |
eine Verschiebung, wenn nicht sogar eine untergründige Revolution ausgelöst | |
oder wenigstens bestärkt hat. Anders als noch bei ihrem Vater sind die | |
Sphären „Bücher“ und „Leben“ in ihrem Werk eben nicht getrennt. | |
Dem, was „tief in ihr steckt“, geht Annie Ernaux schreibend nach. Und das | |
sind nicht nur Worte. Es sind auch Ereignisse [1][wie eine Abtreibung] oder | |
ein Wutausbruch des Vaters am Essenstisch. Und es sind die Gedanken und | |
Gefühle, die man hat, wenn man in der zweiten Hälfte des vergangenen | |
Jahrhunderts als Frau und Bildungsaufsteigerin in der französischen | |
Gesellschaft aufwächst. | |
Als „Ethnologie ihrer selbst“ hat das Annie Ernaux einmal bezeichnet, an | |
anderer Stelle auch als „Archäologie in eigenen Sachen“. Die | |
unterschwellige Revolution im Schreiben, die sie damit ausgelöst hat, | |
trägt seit einigen Jahren einen Namen: „Autofiktion“. Viele sagen dazu | |
inzwischen [2][Knausgård] und schlagen die Hände über dem Kopf zusammen: | |
Das sei doch nur Ich-Spiegelei. Bei Annie Ernaux aber kann man sehen, was | |
zentral und wichtig an diesem Trend ist. | |
## Starke Werkzeuge zum Verstehen | |
Die Themen, über die sie schreibt, wären noch vor wenigen Jahren als | |
„Gedöns“ oder „Frauenthemen“ gelabelt worden, doch Annie Ernaux hat | |
entscheidend dazu beigetragen, sie ins Zentrum der Literatur zu rücken. Es | |
sind Frauenthemen, ja, und zugleich zeigt sich in der Genauigkeit, mit der | |
Annie Ernaux sie beschreibt, wie vielschichtig, funkelnd und auch traurig | |
so ein individuelles Leben sein kann. Was die Literaturwissenschaftlerin | |
Hanna Engelmeier in der taz geschrieben hat, gilt: „Annie Ernaux’ | |
kollektive Autobiografien sind unendlich starke Werkzeuge dafür, | |
individuelle Leben zu verstehen.“ | |
„Erinnerungen eines Mädchens“, „Die Scham“, „Die Jahre“, „Das Er… | |
heißen diese Bücher, die so etwas wie der Maßstab geworden sind, an dem | |
sich ein gesellschaftsbewusstes literarisches Schreiben orientieren kann. | |
Aus dem Abstand, den das Leben mit sich bringt, erinnert sich diese Autorin | |
ganz konkret und ganz kleinteilig an einschneidende Ereignisse ihrer frühen | |
Jahre und bemüht sich dabei, sowohl ihrem damaligen Erleben, auch wenn es | |
schambesetzt ist, gerecht zu werden als auch dem Abstand, den die | |
inzwischen 82-jährige Autorin von ihr trennt. Dabei geht es ganz direkt um | |
die konkreten Wörter, die gefallen sind, die Gerüche, die da waren, und die | |
damit verbundenen Gefühle. | |
Dass Annie Ernaux mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet wird, lässt | |
sich dabei auch als [3][literarische Richtungsentscheidung] verstehen. | |
Ausgezeichnet werden hier keine grandiosen historischen Romanpaläste, | |
sondern die Ernsthaftigkeit des Nachspürens von konkretem, individuellem | |
Leben. Verbunden ist das mit einer Auszeichnung einer besonderen | |
literarischen Sprache – Ernaux’ Sprache ist unsentimental, sezierend, | |
genau. Und es ist durchaus auch eine politische Entscheidung, mindestens in | |
dem Sinn, dass das Private – altes Wissen der gesellschaftlichen Bewegungen | |
– immer auch politisch ist. | |
6 Oct 2022 | |
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## AUTOREN | |
Dirk Knipphals | |
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