| # taz.de -- Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux: „Ich bin eine Frau, di… | |
| > Die frisch gekürte Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux über | |
| > Vergangenheit, sozialen Aufstieg und das Schreiben als Prozess des | |
| > Nachdenkens. | |
| Bild: Annie Ernaux, 2020, in ihrem Haus | |
| taz: Madame Ernaux, Ruhm wurde Ihnen als Schriftstellerin erst spät zuteil. | |
| Was ließ Sie aber überhaupt zu schreiben beginnen? | |
| Annie Ernaux: Die Lust und das Interesse am Schreiben entwickelte ich früh, | |
| schon mit 20 Jahren. Ein paar Jahre später schrieb ich auch schon ein | |
| erstes Buch, das ich auch vollendete, allerdings nie veröffentlichte. | |
| Dass ich dann zehn Jahre später doch wieder weiterschrieb und tatsächlich | |
| auch meinen ersten Roman veröffentlichte, hatte viel damit zu tun, dass ich | |
| mir immer mehr Gedanken über mein eigenes Leben machte. Ich hatte die | |
| Gesellschaftsklasse gewechselt, plötzlich war ich nicht mehr das Mädchen | |
| aus bescheidenen Verhältnissen, sondern eine gut gekleidete Lehrerin mit | |
| Mann und adrettem Zuhause. Ich wollte reflektieren, wie es genau dazu | |
| gekommen war und was das eigentlich bedeutete. Und das tat ich, indem ich | |
| es aufschrieb. | |
| In Ihrem Werk setzen Sie sich immer wieder mit Ihrer Autobiografie | |
| auseinander, mit Erinnerungen und Tagebüchern. Macht Sie die | |
| Beschäftigung mit der eigenen Vergangenheit manchmal wehmütig? | |
| Nein, ich werde nicht rührselig oder emotional, wenn ich an Ereignisse | |
| denke, die so weit zurückliegen. Auch nicht, als ich zuletzt all die alten | |
| Super-8-Aufnahmen meiner Familie wieder gesehen habe, aus denen mein Sohn | |
| David und ich den Film „Les années Super 8“ gemacht haben. Die Distanz ist | |
| einfach zu groß, schließlich ist seither unglaublich viel Zeit vergangen. | |
| Aber gerade diese Distanz erlaubt es mir natürlich, meine Erinnerungen in | |
| ein Narrativ zu verwandeln und zu verdichten. Im Zentrum steht dann eine | |
| Frau, die ich einmal war, aber heute nicht mehr bin, und das in einem | |
| Kontext, der ein anderer ist als mein gegenwärtiger. Das ist wichtig, | |
| dieser Abstand muss da sein. Über Dinge, die erst zehn Jahre zurückliegen, | |
| könnte ich vermutlich nicht so ohne Weiteres schreiben. | |
| [1][Besagter Film] besteht lediglich aus diesen alten Aufnahmen, dazu | |
| haben Sie einen Text geschrieben. Haben Sie das als eine Art Fortsetzung | |
| Ihrer literarischen Arbeit empfunden? | |
| Irgendwie war es beides, einerseits eine Erweiterung dessen, was ich | |
| ohnehin immer getan habe, aber andererseits auch etwas vollkommen anderes. | |
| Natürlich habe ich auch für den Film wieder mit meinen Lebenserinnerungen | |
| gearbeitet, genau wie für meine Bücher. | |
| Gleichzeitig bin ich aber natürlich in der Literatur viel freier, während | |
| ich beim Schreiben des Textes für den Film gebunden war an die Bilder. Es | |
| war ungewohnt, eine solche Vorgabe zu haben, die gewisse Einschränkungen | |
| mit sich brachte. Auch wenn ich natürlich immer wieder versucht habe, die | |
| Aufnahmen der Super-8-Filme als Ausgangspunkt zu nehmen, um Gedanken auch | |
| darüber hinaus zu entwickeln und größere Kontexte herzustellen. | |
| Aber der Text entstand wie Ihre anderen Werke auch? | |
| Das schon. Ich war da ganz frei und unabhängig, es gab keine Vorgaben | |
| seitens meines Sohnes, welche Themen ich mir vornehmen solle. Ich wusste | |
| natürlich, was wir damals alles gefilmt haben, außerdem war klar, wie lang | |
| der Film werden solle. | |
| Alles andere war mir überlassen, und nur so kann ich arbeiten. Unsere | |
| Reisen, etwa nach Albanien oder Chile, unser Alltag, aber auch das Dasein | |
| als Frau im Frankreich der siebziger Jahre, all das floss mit ein in den | |
| Text zum Film, der mich immer wieder auch an mein Buch „Die Jahre“ denken | |
| ließ, in dem diese Zeit auch schon viel Raum eingenommen hatte. | |
| Hat Sie das Medium Film darüber hinaus je interessiert? | |
| Als Zuschauerin natürlich, und ich würde sagen, dass sicherlich das Kino | |
| der Nouvelle Vague einen Einfluss darauf hatte, dass und wie ich zu | |
| schreiben begonnen habe. Mehr noch sogar als der Nouveau Roman, also jene | |
| Bewegung, die ab der Mitte der 1950er Jahre in der französischen Literatur | |
| vieles veränderte. Aber als Künstlerin? | |
| Nein. Ich bin eine Frau, die schreibt. Das genügt mir. Ich arbeite beim | |
| Schreiben mit meinen eigenen, inneren Bildern, mit den Bildern meiner | |
| Erinnerung. Fürs Kino zu schreiben, also der Prozess der Drehbucharbeit, | |
| hat mich nie interessiert. | |
| Sehnen Sie sich auch manchmal nach der Vergangenheit zurück? | |
| Nicht wirklich, denn ich lebe im Jetzt, und so sehr Gestern und Morgen ein | |
| Teil der Gegenwart sind, so wichtig ist der Moment. Aber wenn ich etwa an | |
| die siebziger Jahre denke, ist der Unterschied zu heute doch einer wie Tag | |
| und Nacht. Heute herrscht eine Hoffnungslosigkeit, die ich mir früher nie | |
| hätte ausmalen können. Damals dachten wir, dass uns eigentlich die ganze | |
| Welt offensteht und uns keine Grenzen gesetzt sind, dass wir alles | |
| verändern können und alles besser wird. Selbst was die Politik angeht. | |
| Die Welt, die Natur, alles war zunächst unsere Spielwiese. Bis dann doch | |
| recht früh eigentlich schon klar wurde, dass die Ressourcen eben nicht | |
| endlos sind und auch unsere Freiheit eben nicht grenzenlos ist. Deswegen | |
| verstehe ich, woher die heutige Hoffnungslosigkeit kommt. Aber ich wünsche | |
| mir trotzdem sehr, dass sie nur eine Phase ist, die auch wieder | |
| vorübergeht. Was morgen ist, lässt sich unmöglich vorhersagen, also warum | |
| sollte man nicht ein bisschen hoffnungsvoll sein. | |
| 7 Oct 2022 | |
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| ## AUTOREN | |
| Patrick Heidmann | |
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