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# taz.de -- Nobelpreisträgerin Annie Ernaux: Aus der nackten Realität
> Die Scham ist der rote Faden in Annie Ernaux’ Werk. Was die
> gesellschaftliche Tragweite ihrer Schriften ausmacht: ihre soziale
> Herkunft.
Bild: Die Stärke, Verletzlichkeit zu zeigen: Annie Ernaux (hier 2002) erhält …
Sie habe nie in Metaphern oder Allegorien geschrieben, so charakterisiert
die französische Schriftstellerin Annie Ernaux ihre Bücher. Der
Literaturnobelpreis geht in diesem Jahr nicht an das Altehrwürdige,
Gehobene, Raffinierte. Sondern an das Schäbige, das Eiskalte, das scharf
Blutende. Und das ist eine gute Entscheidung. Ernaux ist keine Künstlerin,
die auf die Armen und Ungesehenen blickt, sondern eine, die direkt aus
dieser Perspektive heraus schreibt. Nichts läge der französischen
Schriftstellerin Ernaux ferner als ein Satz, wie er 2020 von
Nobelpreisgewinner Peter Handke fiel: „Ich komme von Tolstoi, von Homer,
von Cervantes.“ Denn Ernaux kommt aus der Armut, aus der nackten Realität.
Die Scham als roter Faden in Ernaux’ Werk, ihre soziale Herkunft, Tochter
aus einer bildungsfernen Arbeiterfamilie, machen die gesellschaftliche
Tragweite des Werkes aus.
Ernaux’ Stärke besteht darin, nicht Stärke zu zeigen – sondern
Verletzlichkeit. Ob sie über eine erlittene Vergewaltigung, eine
[1][illegale (und entsprechend brutale) Abtreibung], über das Aufwachsen
in Armut oder über Krankheit und Tod schreibt: Es ist die Scham, die sich
durch alles zieht. „Ich wollte immer Bücher schreiben, über die es mir dann
unmöglich sein würde zu sprechen. Bücher, die den Blick des anderen
unerträglich machen“, schreibt sie in ihrem Roman mit dem – geradezu
unvermeidlichen – Titel „Die Scham“. Dabei ist Ernaux niemals
exhibitionistisch. Vielmehr ist ihre Introspektion eine konsequente und
gnadenlose Auseinandersetzung mit sich selbst. Das Schreiben mache ihr
immer Angst, sagte Ernaux einmal. Wer sie liest, weiß, warum.
Der französische Sozialwissenschaftler Didier Eribon landete mit seinem
ebenfalls autobiografischen Buch „Rückkehr nach Reims“ 2016 in Deutschland
einen Riesenerfolg – denn er traf einen Nerv, indem er ein scheinbares Tabu
brach: über die Scham über die soziale Herkunft zu sprechen. Es gab eine,
die das schon längst vor ihm tat und die er auch mit viel Anerkennung
zitiert. Es ist Annie Ernaux.
Die Schriftstellerin ist aber auch in anderer Hinsicht [2][immer schon eine
Vorreiterin gewesen]. Eine Feministin, die von illegaler Abtreibung („Das
Ereignis“), von sexualisierter Gewalt („Erinnerung eines Mädchens“)
erzählt, lange bevor der Feminismus im 21. Jahrhundert neu aufblüht.
Die heute 82-jährige Schriftstellerin ist sich trotz Weltruhms treu
geblieben. Immer beteiligt sie sich am aktuellen politischen Geschehen,
nimmt Stellung, verteidigt die Mittellosen. 2019 ist Ernaux
Mitunterzeichnerin eines offenen Briefes in der französischen Tageszeitung
Libération, wo es heißt: „Die Gelbwesten, das sind wir“. So mancher
Linksintellektuelle war sich für eine solche Nähe zur Straße zu fein.
Unter anderem „für ihren Mut“ werde der Französin nun der Nobelpreis
verliehen, hieß es von der Schwedischen Akademie. In diesem Fall ist das
keine Floskel.
6 Oct 2022
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## AUTOREN
Lea Fauth
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Französische Literatur
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