# taz.de -- Verfilmung von Ernaux-Roman: In der Liebe und in der Lust | |
> In „Das Ereignis“ erzählt Annie Ernaux von einer verbotenen Abtreibung. | |
> Die Regisseurin Audrey Diwan hat den Roman nun sensibel verfilmt. | |
Bild: Anne (Anamaria Vartolomei) fühlt sich in ihrer Lage sehr allein: Szene a… | |
„Im Sommer 1963“, schreibt [1][Annie Ernaux] in ihrem Roman „Das Ereignis… | |
„wartete ich in Rouen über eine Woche darauf, dass meine Tage kamen.“ Das | |
Blut kam nicht. Ernaux, damals 22 Jahre alt und Literaturstudentin, war | |
ungewollt schwanger geworden, trotz Verhütung per „Knaus-Ogino-Methode“. | |
Sie habe nicht geglaubt, schreibt sie weiter, „dass sich da etwas in mir | |
‚einnisten‘ könnte. In der Liebe und der Lust hatte ich nicht das Gefühl, | |
mein Körper unterscheide sich grundsätzlich von dem eines Mannes.“ | |
Tut er aber, was die Konsequenzen betrifft. Und er stellte die hochbegabte | |
Studierende (und spätere Schriftstellerin) vor eine Wahl: ein uneheliches | |
Kind zu bekommen, einer darüber empörten Gesellschaft standzuhalten, die | |
Familie zu enttäuschen, das Studium abzubrechen, und damit die Zukunft | |
(vermutlich für immer) festzulegen. Oder: illegal abzutreiben. Denn legal | |
war es nicht möglich: „Sie, und jeder, der Ihnen hilft, geht ins | |
Gefängnis“, warnt der Arzt bei der Diagnose. | |
Als die Regisseurin Audrey Diwan Ernauxs autobiografischen Roman in die | |
Hände bekam, hatte sie selbst gerade eine Abtreibung hinter sich: „Mein | |
Bedürfnis, etwas darüber zu lesen, war stark“, erzählt die 42-Jährige im | |
Interview, „dann wurde mir klar, dass die französische Realität der 60er | |
für andere Frauen und Mädchen auf der Welt noch immer gilt.“ Ihr erster | |
Gedanke sei gewesen, aus dem Roman „eine Erfahrung zu machen, die man im | |
eigenen Körper miterleben kann“. | |
„Das Ereignis“ legt darum großen Wert auf die subjektive Wahrnehmung seiner | |
Heldin. Die Kamera schaut nah auf Anne (Anamaria Vartolomei) und mit ihr, | |
die Bewegungen ihres Kopfes werden vom Kameramann gespiegelt oder | |
beantwortet. Ihr Blick auf die Welt und den eigenen Körper wird so zum | |
Zuschauer:innenblick, ihre Umgebung ist gleichzeitig flirrend und | |
unbeweglich. | |
## Alles Weiblich-Körperliche ist mit Scham behaftet | |
Zwar wird über Politik, Literatur und Philosophie diskutiert und abends in | |
verrauchten Kneipen getanzt. Aber alles Weiblich-Körperliche ist mit Scham | |
behaftet, und vorehelicher Sex (für Frauen) verboten. Anne bewegt sich | |
zunächst sicher, sie lernt, liest, schreibt, denkt, ihre Ahnung von | |
Selbstverwirklichung, von einer Karriere wächst nicht nur durch Reaktionen | |
ihrer Dozenten. Doch über ihren Körper darf nicht sie bestimmen. | |
Denn mit der Erkenntnis, von einem Bekannten schwanger geworden zu sein, zu | |
dem sie keinen Kontakt hat, beginnt Annes Hoffnung zu wackeln. Der | |
Entschluss, die Schwangerschaft zu beenden, eine Möglichkeit, für die es | |
damals nicht mal Worte gab (niemand im Film spricht von „Abtreibung“), | |
steht irgendwann fest. In intensiven, trotz der Dramatik sicheren und fast | |
sachlichen Szenen zeigt Diwan Annes Versuche von Medikamenten bis | |
Stricknadeln, die – zwangsweise, nicht aus Selbsthass – immer | |
selbstdestruktiver werden. | |
Sie zeigt ihr vergebliches Bitten um Hilfe; schließlich sucht und findet | |
Anne eine „Engelmacherin“. Doch die Odyssee ist nicht zu Ende: Der Abbruch | |
schlägt fehl, die Situation eskaliert, Diwans immersive Bilder sind | |
drastisch. „Ich wollte dem Publikum ermöglichen, das Gleiche wie die Heldin | |
zu sehen, weil ich ehrlich sein musste. Aber es steht einem frei, die Augen | |
zu schließen“, sagt die Regisseurin. | |
## Kompliziertes Abtreibungsrecht in den USA | |
Sie wolle nicht provozieren, erklärt sie, sondern die Diskussion eröffnen. | |
Eine aktuelle Diskussion: [2][Eliza Hittmans Drama „Never Rarely Sometimes | |
Always“] zeigte 2020, wie kompliziert das Abtreibungsrecht, selbst nach | |
Vergewaltigungen, in manchen US-Bundesstaaten noch immer gehandhabt wird. | |
In Frankreich und anderen, wenn auch nicht allen Ländern Europas sind sie | |
dagegen innerhalb einer bestimmten Zeitspanne legal. | |
In Deutschland hat die Koalition im Januar einen Gesetzentwurf vorgelegt, | |
nach dem der Paragraf 219a, der die „Werbung für Schwangerschaftsabbrüche“ | |
verbot, aus dem Strafgesetzbuch gestrichen werden soll. Es sei bereits | |
Werbung, fanden und finden Befürworter:innen dieses Paragrafen, wenn | |
man Frauen darüber informiert, dass der Abbruch in einer „geschützten | |
Atmosphäre“ stattfände. | |
Was eine nicht geschützte Atmosphäre sein könnte, verdeutlicht Diwans Film | |
eindringlich. Wer danach noch behauptet, jemand würde durch eine | |
Information wie die genannte zum Abtreiben „verführt“, hat ein absurdes | |
Menschenbild. | |
Vartolomei spielt Anne mit authentischer Natürlichkeit, nie naiv, sondern | |
nachdenklich, nie romantisch, sondern realistisch. Ihr Leben in der Stadt | |
unterscheidet sich von dem Verhalten, das sie beim Besuch ihrer Familie an | |
den Tag legt: Dass Anne sich ihrer prekären Vergangenheit nur durch Bildung | |
entziehen kann, dass sie das Studium braucht, wird vor allem in Szenen in | |
der heimischen Kneipe deutlich. | |
Neben den bewegenden, teilweise erschütternden Bildern und dem | |
herausragenden Spiel ist das Fehlen von didaktischen Diskursen die große | |
Stärke von Diwans Film. Denn es geht um Tatsachen, die | |
schicksalsbestimmend sind. Selbstredend für das Schicksal von Frauen. Genau | |
darum müssen ihn Männer anschauen. | |
31 Mar 2022 | |
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## AUTOREN | |
Jenni Zylka | |
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