# taz.de -- Filmfestspiele von Venedig: Nachgeburt auf dem Klo | |
> Mit der Regisseurin Audrey Diwan gewinnt zum sechsten Mal eine Frau den | |
> Goldenen Löwen. Ausgezeichnet wird ihr Film „L'événement“. | |
Bild: Audrey Diwan mit ihrem goldenen Löwen | |
Für junge Filmemacherinnen ist 2021 nicht das schlechteste Jahr. Zumindest | |
bei den großen Filmfestivals konnten sie sich gegen die Mehrheit der | |
männlichen Kollegen behaupten. Nach der Französin Julia Ducournau, die im | |
Juli in Cannes für ihren Film „Titane“ die Goldene Palme gewann, hat am | |
Sonnabend die ebenfalls französische Regisseurin [1][Audrey Diwan bei den | |
78. Internationalen Filmfestspielen von Venedig den Goldenen Löwen für ihre | |
Literaturadaption „L'événement“] erhalten. | |
Der Film, der auf dem gleichnamigen autobiografischen Roman der | |
[2][Schriftstellerin Annie Ernaux] basiert, erzählt von der Studentin Anne | |
(Annamaria Vartolomei), die im Jahr 1963 unabsichtlich schwanger wird und | |
ihren Lebensentwurf gefährdet sieht. Die brillante | |
Literaturwissenschaftsstudentin riskiert, die Universität abbrechen zu | |
müssen und die Chance zu verlieren, sich aus den beengten Verhältnissen | |
ihrer Familie zu befreien. Wobei der Film weniger stark auf diesen Aspekt | |
eingeht als vielmehr auf das größte Hindernis für Anne, die Strafbarkeit | |
einer Abtreibung. Das Jahr der Handlung verweist auf ein weiteres Hindernis | |
für Anne, ohne dass der Film dies thematisiert: Erst 1964 wurde in | |
Frankreich die Antibabypille eingeführt. | |
Audrey Diwan konzentriert sich in ihrem Film auf Annes unermüdliche | |
Versuche, sich gegen diese Widrigkeiten zu behaupten. Lässt sie auf mehr | |
oder minder verständnisvolle Gynäkologen treffen, die ihr bestenfalls | |
sagen, dass sie ihr nicht helfen können. Ihre Freundinnen und Freunde | |
reagieren moralisch empört. Annamaria Vartolomei spielt die anfangs | |
selbstbewusste Anne zunehmend als verzweifelte und sozial gedemütigte | |
Außenseiterin. Wenn Anne schließlich an eine Engelmacherin vermittelt wird | |
und die Schmach einer heimlichen Abtreibung über sich ergehen lassen muss, | |
gerät der Film auf beklemmende Weise körperlich, Nachgeburt auf dem Klo | |
inklusive. Beim Zusehen wird man zum Mitleiden mit Anne gezwungen. | |
## Einstimmiges Votum | |
„L’événement“ ist der zweite Spielfilm Audrey Diwans als Regisseurin na… | |
„Mais vous êtes fous“ von 2019. Zuvor war sie vor allem als Drehbuchautorin | |
tätig. Die Wettbewerbsjury hat sich, wie ihr Vorsitzender, der koreanische | |
Regisseur Bong Joon-ho bei der Preisverleihung am Sonnabend ankündigte, | |
einstimmig für Diwan entschieden. Damit ist ein engagierter feministischer | |
Film ausgezeichnet worden. | |
Diwans Film gehört andererseits wie viele weitere im Wettbewerb zu den | |
vorwiegend geradlinig erzählten Beiträgen. Die sechziger Jahre sind, was | |
Kostüme, Mobiliar und die übrige Kulisse angeht, unaufdringlich realistisch | |
ins Bild gesetzt, bloß das kalte Licht der scharf aufgelösten Bilder mutet | |
ganz gegenwärtig digital an. Was sich aber vor allem gegen die Entscheidung | |
für „L’événement“ einwenden ließe, ist die ganz auf die Botschaft | |
reduzierte Erzählung, für die sich Diwan entschieden hat. Worunter auch die | |
Figur der Anne leidet, die auf die eine existenzielle Frage beschränkt | |
bleibt, als Person im Übrigen blass erscheint. | |
Einen klaren Favoriten gab es in diesem Jahrgang allerdings keinen. Die | |
vorwiegend bekannten Namen des Wettbewerbs von Pedro Almodóvar über Jane | |
Campion bis zu Paolo Sorrentino zeigten sich fast durchgehend in guter | |
Form, was sich in den übrigen Auszeichnungen niederschlug. Völlig | |
berechtigt erhielt etwa [3][Sorrentino den „Großen Preis der Jury“ für �… | |
stata la mano di Dio“ (Die Hand Gottes)], in dem er von einem tragischen | |
Ereignis seiner Jugend in Neapel erzählt. | |
Sorrentino mag die barocke Fülle, wirft einen in die leidenschaftlich | |
gehässige und exzentrische Gesellschaft seiner Familie, kann aber genauso | |
einfühlsam von einer ungleichen Freundschaft seines Alter Ego Fabio mit | |
einem gutmütig unbekümmerten Zigarettenschmuggler erzählen. Der | |
Schauspieler Filippo Scotti wurde für seinen Part als Fabio verdient mit | |
dem Marcello-Mastroianni-Preis für den besten Nachwuchsdarsteller geehrt. | |
Mit dem Preis für die beste Regie an [4][die neuseeländische Filmemacherin | |
Jane Campion erhielt ihr Post-Western „The Power of the Dog“] die dritte | |
wichtige Auszeichnung des Festivals. Die Geschichte zweier ungleicher | |
Brüder, deren Beziehung in eine kritische Phase eintritt, als einer der | |
beiden heiratet und fortan eine Frau im Haus wohnt, ist ein Beispiel für | |
sparsames und langsames Erzählen in ruhigen Einstellungen, bei dem die | |
Bereitschaft, sich der Gangart Campions anzuschließen, allemal belohnt | |
wurde. Als Goldener Löwe wäre diese vor bösen Pointen keinesfalls | |
zurückschreckende feministische Perspektive auf toxische | |
Cowboy-Männlichkeit und unterdrückte Homosexualität durchaus auch denkbar | |
gewesen. | |
## Preis für Penélope Cruz | |
Dass Penélope Cruz, die in gleich zwei Filmen im Wettbewerb angetreten war, | |
die Coppa Volpi für die beste Darstellerin bekam, war vorab vermutet | |
worden. Den Preis für ihren Auftritt als ungewollte, aber freiwillige | |
Mutter in Almodóvars „Madres paralelas“ hätte sie im Zweifel ebenso für | |
ihre Rolle einer exzentrischen Regisseurin in der argentinischen Komödie | |
„Competencia oficial“ von Gastón Duprat und Mariano Cohn verdient gehabt. | |
Was in diesem Jahr etwas fehlte, waren überzeugende ästhetisch mutige | |
Filme. Eine Ausnahme bildet der italienische Beitrag „Il buco“ von | |
Michelangelo Frammartino, die praktisch dialogfreie Rekonstruktion einer | |
1961 in Kalabrien unternommenen Höhlenerkundung. Für diese Reise gut 680 | |
Meter in die Tiefe gab es immerhin den Spezialpreis der Jury. Erfreulich | |
auch die Coppa Volpi für den besten Darsteller für den philippinischen | |
Schauspieler John Arcilla, der im Korruptionsthriller „On the Job: The | |
Missing 8“ von Erik Matti einen Journalisten spielt, der sich nach einem | |
Mord an Kollegen seine Unbestechlichkeit zurückerkämpft. | |
In den Nebenreihen fielen außer Konkurrenz die vielen Dokumentarfilme über | |
Musiker auf, besonders „Becoming Led Zeppelin“ von Bernard McMahon, der | |
Archivbilder und aktuelle Interviews in ein lebendiges Verhältnis brachte. | |
Weniger gelungen dafür „Hallelujah: Leonard Cohen, A Journey, A Song“ von | |
Daniel Geller und Dayna Goldfine über die Wirkungsgeschichte von Cohens | |
Song „Hallelujah“, der in seinen Interviews etwas beliebig vorgeht. Und | |
„Ennio“ von Giuseppe Tornatore ist ein großangelegtes Porträt des | |
Komponisten Ennio Morricone, in dem man viel über dessen Entwicklung und | |
Arbeitsweise erfährt, Tornatore erliegt aber der Versuchung, seine | |
Gesprächspartner in Erinnerungen an die Großartigkeit Morricones schwelgen | |
zu lassen. Und er verschafft sich einen unfreiwillig komischen Auftritt als | |
sein eigener Interviewpartner, der von der Arbeit mit Morricone berichtet. | |
Aus der Nebenreihe „Orizzonti“ mit jüngeren Regisseuren ist wenig zu | |
berichten, [5][einerseits war es diesmal schwierig, für gewünschte Filme | |
ein Ticket zu buchen], andererseits war die Auswahl durchwachsen. Selbst | |
der als bester Film prämierte „Piligrimai“ des Letten Laurynas Bareiša ü… | |
eine „Pilgerfahrt“ an den Ort eines Mordes war eine spröde Angelegenheit. | |
Immerhing gab es mit dem Animationsfilm „Inu-Oh“ des Japaners Masaaki Yuasa | |
ein flirrend-verwaschenes Noh-Musical, dessen freier Umgang mit der | |
Geschichte des traditionellen japanischen Theaters staunen machte. | |
12 Sep 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Selbstbestimmung-bei-den-Filmfestspielen/!5799288 | |
[2] /Franzoesische-Literatur/!5717389 | |
[3] /Kriegstraumata-bei-den-Filmfestspielen/!5794320 | |
[4] /Western-auf-den-Filmfestpielen-in-Venedig/!5793128 | |
[5] /Il-buco-beim-Filmfestival-Venedig/!5799103 | |
## AUTOREN | |
Tim Caspar Boehme | |
## TAGS | |
Film | |
Schwerpunkt Filmfestspiele Venedig | |
Venedig | |
Goldener Löwe | |
GNS | |
Kino | |
Schwerpunkt Filmfestspiele Venedig | |
Spielfilm | |
Filmgeschichte | |
Spielfilm | |
Film | |
taz Plan | |
Filmfestival Venedig | |
Kolumne Lidokino | |
Filmfestival Venedig | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Neuer Film von Michaelangelo Frammartino: „Alles strebte nach oben“ | |
Michelangelo Frammartino stellt den Abstieg in eine der tiefsten Höhlen | |
Europas nach. Ein Gespräch über unentdeckte Abgründe und extreme Drehs. | |
Auftakt des Filmfestivals Venedig: Löwen für Hollywood | |
Lidokino 1: Die 79. Ausgabe der Filmfestspiele von Venedig startet. | |
Versprochen sind fast vorpandemische Zustände – und starke Frauen. | |
Verfilmung von Ernaux-Roman: In der Liebe und in der Lust | |
In „Das Ereignis“ erzählt Annie Ernaux von einer verbotenen Abtreibung. Die | |
Regisseurin Audrey Diwan hat den Roman nun sensibel verfilmt. | |
Filmfestival Viennale: Kurze Blüte | |
Mit dem Cineasten Amos Vogel und der Regisseurin Sara Goméz ehrt das | |
Filmfestival Viennale subversive Strategien. Andere Reihen aber | |
enttäuschten. | |
Regisseurin Ducournau über Film „Titane“: „Der wandelnde Todestrieb“ | |
Die Regisseurin Julia Ducournau gewann mit ihrem Film „Titane“ die Goldene | |
Palme in Cannes. Sie spricht über weibliche Filmteams und Emanzipation. | |
Filmfestival San Sebastián: Zeichen zum Positiven | |
Beim Internationalen Filmfest San Sebastián gehen die Preise in großer | |
Mehrheit an Frauen. Den Ehrenpreis erhält Johnny Depp – ausgerechnet. | |
Neue Musik aus Berlin: Stabile Verbindungen | |
Der Keyboarder Ulrich Schnauss und der Gitarrist Mark Peters lassen es gern | |
fließen. Mit „Destiny Waiving“ legt das Duo sein drittes Album vor. | |
„Il buco“ beim Filmfestival Venedig: Klaffende Löcher, schwebende Felsen | |
Lidokino 5: Michelangelo Frammartino erzählt von stummen Höhlengängen in | |
Italien. | |
Kriegstraumata bei den Filmfestspielen: Ein Folterer als Pokerface | |
Lidokino 4: Paul Schraders „The Card Counter“ erinnert im Wettbewerb von | |
Venedig an Guantánamo und den Irak. Paolo Sorrentino erzählt von Neapel. | |
Western auf den Filmfestpielen in Venedig: Was auf die Kuhhaut geht | |
Lidokino 3: Jane Campion kehrt zurück mit einem hinterhältigen Western. In | |
den Hauptrollen: Benedict Cumberbatch, Kirsten Dunst und Leder. |