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# taz.de -- Filmfestival San Sebastián: Zeichen zum Positiven
> Beim Internationalen Filmfest San Sebastián gehen die Preise in großer
> Mehrheit an Frauen. Den Ehrenpreis erhält Johnny Depp – ausgerechnet.
Bild: Jonás Truebas Film „Quién lo impide“ beobachtet Jugendliche über v…
Triumph war wohl eines der meistgebrauchten Worte am Samstag, als bei der
Abschlussgala des Internationalen Filmfests San Sebastián die Preise in
großer Mehrheit an Frauen vergeben wurden. Es war nicht zuletzt ein
überzeugendes Zeichen, dass sich nur etwas zum Positiven entwickeln kann,
wenn auf allen Ebenen die Voraussetzungen dafür geschaffen werden.
Im Wettbewerb waren mit sieben von 19 Filmen mehr Beiträge von
Regisseurinnen eingeladen als jemals zuvor, in der fünfköpfigen Jury saßen
vier Frauen, darunter die Preisträgerin des letztjährigen Jahrgangs,
[1][Dea Kulumbegashvili („Beginning“)] aus Georgien, und die [2][frisch
gekürte Venedig-Gewinnerin Audrey Diwan („Das Ereignis“)]. Sie zeichneten
am Ende das rumänische Drama „Blue Moon“ mit der Goldenen Muschel als
besten Film aus. In ihrem Regiedebüt erzählt Alina Grigore rigoros und
psychologisch präzise vom Kampf einer jungen Frau, sich gegen alle
Widerstände aus familiären Gewaltstrukturen zu lösen und nach höherer
Bildung zu streben.
Lise, die Protagonistin im dänischen Drama „As in Heaven“ ist gar das erste
Kind in ihrer Familie, das Ende des 19. Jahrhunderts eine Schule besuchen
darf, bis es bei der Geburt ihres jüngsten Geschwisters Komplikationen gibt
und sie als Älteste gezwungen ist, ihre Mutter als Frau im Haus zu
ersetzen. Tea Lindeburg wurde mit diesem Debütfilm für die beste Regie
ausgezeichnet. Den Spezialpreis der Jury erhielt Lucile Hadžihalilović für
ihren mysteriösen Kunsthorrorfilm „Earwig“ über ein junges Mädchen mit
Zähnen aus Eis, das von einem Mann in einem klaustrophobischen Apartment
beaufsichtigt wird.
Die Schauspielpreise wiederum, erstmals genderneutral vergeben und damit
dem Beispiel der Berlinale folgend, gingen ex aequo an die junge Dänin
Flora Ofelia Hofmann Lindahl aus „As in Heaven“ sowie an Jessica Chastain
im Biopic „The Eyes of Tammy Faye“ über die amerikanische Evangelistin und
TV-Ikone, die sich für die LGBT-Community einsetzte. Auch für die beste
Bildgestaltung wurde mit Claire Mathon für den französischen Politthriller
„Undercover“ eine Frau ausgezeichnet. Einzig der Drehbuchpreis ging mit
Terence Davies an einen männlichen Kollegen, für sein höchst streitbares
Filmporträt „Benediction“ über den homosexuellen britischen Dichter und
Veteranen des Ersten Weltkriegs Siegfried Sassoon.
Ungute Entscheidung für Ehrenpreis
Mit dieser Quote übertraf das Festival in seiner 69. Ausgabe noch die
Konkurrenz in Cannes und Venedig, wo zuletzt ebenfalls Frauen mit
Hauptpreisen gewürdigt wurden. Die Jury korrigierte damit den unguten
Eindruck, den die Entscheidung der Festspielleitung hinterlassen hatte,
ausgerechnet Johnny Depp mit einem Ehrenpreis auszuzeichnen, während die
Missbrauchsvorwürfe seiner ehemaligen Lebensgefährtin gegen ihn noch nicht
geklärt sind. Depp nutzte prompt das Festival als Plattform, um die von ihm
sogenannte „Cancel Culture“ als Gefahr für alle zu bezeichnen.
Das Festival war aber auch einmal mehr ein Forum für das aktuelle spanische
Kino, das mit einer erstaunlichen Bandbreite an Produktionen vertreten war,
von politisch relevanten Dramen über gut gemachtes Genrekino bis hin zu
formal experimentellen Beiträgen. Im herausragenden Film „Quién Lo Impide“
dreht Jonás Trueba mit einer Gruppe Jugendlicher über einen Zeitraum von
vier Jahren, das 220 Minuten lange Werk erinnert in seinem präzisen und
empathischen Blick auf die heutige Jugend an [3][Maria Speths
Langzeitdokumentarfilm „Herr Bachmann und seine Klasse“], geht dabei in
seinem Konzept aber deutlich weiter. Trueba beobachtet nicht bloß, er
interagiert immer wieder mit den Jugendlichen, begegnet ihnen auf
Augenhöhe, gibt ihnen Schauspielübungen und lässt sie fiktive Versionen
ihrer selbst darstellen.
So entsteht aus einer faszinierenden Mischung ein hochkomplexes Bild vom
Aufwachsen im heutigen Spanien, den Gedanken und Gefühlen einer Generation
zwischen Wirtschafts-, Klima- und Bildungskrise. Damit trifft Trueba einen
Nerv und korrigiert die zuletzt immer wieder infrage gestellte Reputation
einer Generation, der im Lockdown oft Verantwortungslosigkeit gegenüber den
Älteren und Schwächeren vorgeworfen wurde. Viele hatten den Film als
Favoriten für die Goldene Muschel gesehen, am Ende wurde lediglich das
jugendliche Ensemble für die beste schauspielerische Leistung in einer
Nebenrolle ausgezeichnet.
Der wohl kontroverseste Film des Festivals war Icíar Bollaíns Drama
„Maixabel“ über die Wunden des jahrzehntelangen ETA-Terrors im Baskenland,
dem mehr als 800 Menschen zum Opfer fielen. Im Juli 2000 töteten
linksnationalistische Attentäter auch den sozialistischen Regionalpolitiker
Juan María Jáuregui, per Kopfschuss in einer Kneipe. Seine Witwe Maixabel
Lasa engagiert sich seit Jahren in einem Opferverband und erklärte sich
schließlich bereit, sich mit dem verurteilten Mörder ihres Mannes zu
treffen.
Überfällige Debatte
Bollaíns Spielfilm, in enger Kollaboration mit Lasa und anderen Betroffenen
entstanden, zeigt den schwierigen Weg, sich mit der jüngsten Vergangenheit
auseinanderzusetzen, in einer Region, die auch nach dem Ende der Gewalt
noch immer tief gespalten und von Schweigen und Verdrängen geprägt ist. Ein
relevanter, bewegender Film, der nichts verharmlost oder einfache Lösungen
anbietet, aber die Chance zu einer überfälligen Debatte bietet. Dass
Bollaín und ihr Film von der Jury übergangen wurden, ist zumindest
bemerkenswert. Es mag am politischen Thema liegen und an einer
Protagonistin, die trotz aller Traumata, die ihr zugefügt wurden, um
Aufarbeitung bemüht ist.
Als Abschlussfilm lief „Las Leyes de la Frontera“, die Verfilmung des 2014
auch auf deutsch erschienen Bestsellerromans „Outlaws“ von Javier Cercas.
Eine nostalgische Erinnerung an eine wilde Jugend in den späten Siebzigern,
in Cercas Heimatstadt Girona in Katalonien. Regisseur Daniel Monzón („Cell
211“) tut gut daran, die distanzierende Interviewkonstruktion der Vorlage
abzulegen und mitten einzutauchen in diesen hedonistischen Sommer voller
Partys und Drogen und der Rebellion gegen die erzkatholischen und spießigen
Werte der Eltern. Der politische Übergang, die Transición von Francos
Regime zur Demokratie, wird nur beiläufig gestreift, Monzóns Film ist klar
als Unterhaltungskino für ein breites Publikum angelegt.
Das kam denn auch zur zweiten Pandemieausgabe des Festivals, das dank
strenger Covid-19-Auflagen in den Kinosälen, aber relativ laxen Regelungen
in den zahlreichen Pintxosbars und Restaurants der Altstadt deutlich
entspannter und lebendiger ausfiel als im vergangenen Herbst.
27 Sep 2021
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## AUTOREN
Thomas Abeltshauser
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