# taz.de -- Spielfilm „Earwig“ auf Mubi: Ein Ohrwurm, der kriecht | |
> In ihrem Spielfilm „Earwig“ schafft die Regisseurin Lucile Hadžihalilovi… | |
> betörend-verstörende Seelenlandschaften in Bild und Ton. Er läuft auf | |
> Mubi. | |
Bild: Täglich neue Zähne aus Eis: Mia (Romaine Hemelaers) in „Earwig“ | |
Kein Licht dringt von außen ein. Schweigend betritt das Mädchen die Küche, | |
setzt sich auf den einzigen Stuhl. Der Mann, dessen Gesicht nicht zu sehen | |
ist, stellt ebenso wortlos Utensilien auf ein altes Serviertischchen, ein | |
eingespieltes Ritual beginnt. Das Mädchen trägt eine Art Mundspange aus | |
Metall und Glas, zwei Röhrchen transportieren den Speichel in transparente | |
Fläschchen neben den Mundwinkeln. | |
Der Mann nimmt sie ab und gießt den Inhalt vorsichtig in eine Gebissform, | |
verschließt diese und stellt sie ins Gefrierfach. Dort liegen identische | |
Förmchen, mit gefrorenen Zahnreihen, die er dem Mädchen nun einsetzt, | |
während es die Prozedur ruhig über sich ergehen lässt. Am Ende blickt es zu | |
ihm auf und lächelt, aus ihrem Mund blitzen kristallklare kleine Klötzchen | |
aus Eis. | |
Wer ist dieses Mädchen? Warum lebt es hier mit diesem Mann, abgeschirmt | |
ohne Kontakt zur Außenwelt? Ist er ihr Vater? Ein Entführer? Lange ist | |
nicht klar, was vor sich geht in „Earwig“, dem düster-rätselhaften | |
Horrormärchen von Lucile Hadžihalilović. Albert (Paul Hilton) bereitet die | |
Mahlzeiten für Mia (Romaine Hemelaers), beobachtet sie beim Essen ebenso | |
schweigend, wie er seine Arbeiten verrichtet. Geräusche kommen allenfalls | |
vom Haus, die tickende Uhr, die Gasflamme am Herd. Und die | |
Pappmachéfiguren, die Mia über die knarzenden Holzdielen schleift. | |
Bis plötzlich das Telefon schellt. Eine Männerstimme erkundigt sich nach | |
dem Mädchen, gibt Anweisungen. Es ist nach 25 Minuten der erste Dialog. Wer | |
ist der ominöse Anrufer, der sich regelmäßig meldet? Was hat es mit den | |
Anweisungen zum exakten Tagesablauf auf sich? Und warum befiehlt er Albert | |
schließlich, das Mädchen auf die Abreise vorzubereiten? | |
## Visionen und Erinnerungen | |
Lange spielt der Film nur in diesem Haus, in dessen dunklen Fluren und | |
Zimmerfluchten sich die Kamera immer wieder verliert. In der zweiten Hälfte | |
öffnet sich die Handlung, Albert begegnet einem mysteriösen Fremden in | |
einer Kneipe, im Affekt verletzt er mit einer abgebrochenen Glasflasche die | |
Kellnerin schwer im Gesicht, Visionen und Erinnerungen durchdringen den | |
sonst linearen Erzählfluss. | |
Ein kleiner Junge taucht auf dem Anwesen auf, womöglich eine Rückblende in | |
Alberts Kindheit, der schon sein ganzes Leben hier verbringt. Und der nun | |
am Abschied von dem Mädchen und seiner Routine zugrunde zu gehen scheint. | |
Dabei ist „Earwig“ keine Geschichte eines Spukhauses, Hadžihalilović | |
braucht auch keine Schockmomente, um Spannung zu erzeugen. Ihr Film lebt | |
von Verrätselung, einer bedrohlichen Atmosphäre, deren Grund letztlich | |
nicht greifbar ist. Verhandelt es ein Trauma? Handelt es womöglich von | |
einem Kindermissbrauch, wie ihr erster Kurzfilm „La Bouche de Jean-Pierre“ | |
(1996)? Vieles wird angedeutet in „Earwig“, nichts ausformuliert. | |
## Den eigenen Zugang finden | |
„Als Zuschauerin faszinieren mich Werke, aus denen ich nicht schlau werde | |
und zu denen ich meinen eigenen Zugang finden muss“, sagt die Regisseurin | |
im Gespräch während des [1][Filmfestivals in San Sebastián, wo „Earwig“ … | |
vergangenen Jahr mit dem Spezialpreis der Jury ausgezeichnet] wurde. „Diese | |
Seherfahrung versuche ich auch mit meinen eigenen Filmen herzustellen.“ Das | |
erinnert in seinem Mysterium und der flirrenden Entschleunigung an die | |
[2][klaustrophob-surrealen Welten David Lynchs], dann wieder an britische | |
Gothic-Ästhetik. | |
Dabei hat Hadžihalilović in bisher drei Langfilmen ihre ganz eigene | |
Bildsprache entwickelt. Ihr Debüt „Innocence“ aus dem Jahr 2004, das lose | |
auf Frank Wedekinds Erzählung „Mine-Haha oder Über die körperliche | |
Erziehung junger Mädchen“ basiert, handelte von einem Mädchen, das in einer | |
strengen Internatsschule aufwächst, mit einer irrealen Angst vor der Welt | |
da draußen. | |
In „Evolution“ (2015) ist es ein kränklicher Junge, der beim Schwimmen im | |
Meer eine Kinderleiche zu sehen glaubt. Wasser als unheimliches Element | |
spielt auch in „Earwig“ eine Rolle, wenn beim ersten gemeinsamen Ausgang in | |
die Natur Mia plötzlich wegrennt und an einem Waldsee ihr eigenes | |
Spiegelbild sieht, bevor sie hineinstürzt. | |
## Dialog als Teil der Soundtextur | |
Nicht nur die Bilder sind betörend, die Atmosphäre entsteht vor allem auch | |
durch die Tonspur. Kino ist hierfür nonverbales Ausdrucksmittel, der Dialog | |
ist nicht Träger von Information, sondern Teil der Soundtextur, wie die | |
Geräusche und der von [3][Warren Ellis produzierte Filmscore] mit dem | |
tranceartigen Leitmotiv. Unterbrochen von Momenten fast unerträglicher | |
Stille. | |
Der Film beruht auf dem gleichnamigen Fantasybuch des Briten Brian Catling, | |
das bereits sehr vieldeutig und ambivalent angelegt ist. Das erlaubte ihr | |
und Co-Autor Geoff Cox, sehr frei mit dem Stoff umzugehen, das „eigene | |
Unbewusste einfließen“ zu lassen, wie Hadžihalilović es nennt. Der Roman | |
ist im belgischen Liège angesiedelt, im Film dagegen ist das Geschehen | |
nicht verortbar und wirkt wie aus der Zeit gefallen. Das Haus und die | |
nebelverhangene Gegend könnten auch irgendwo in Mitteleuropa sein. | |
„Ich hatte beim Lesen gleich Kafka vor Augen“, sagt Hadžihalilović. „Wir | |
wollten eine Welt schaffen, die mehr Seelenlandschaft denn ein realer Ort | |
ist“, erklärt sie. Und tatsächlich kriecht „Earwig“ wie ein filmischer | |
Ohrwurm in den Kopf Alberts, findet Bilder für dessen Ängste und Begierden, | |
die gerade deshalb so verstörend schön sind, weil sie nichts | |
ausformulieren. Wie Albert, wenn er mit dem Glas am Ohr zu verstehen | |
versucht, was hinter der Wand vor sich geht, müssen wir uns selbst einen | |
Reim darauf machen. | |
14 Oct 2022 | |
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## AUTOREN | |
Thomas Abeltshauser | |
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