# taz.de -- Film „Annette“ von Leos Carax und Sparks: Liebe macht krank | |
> Der Regisseur Leos Carax hat ein Musical der Pop-Band Sparks verfilmt. | |
> „Annette“ ist ein furioser und albtraumhafter Trip. | |
Bild: Als Opernsängerin gibt sich Ann (Marion Cotillard) jeden Abend hin | |
He’s so full of himself“, sagt der Amerikaner, wenn er jemanden | |
beschreibt, der sich um sich selbst dreht. Der egozentrisch ist, der | |
konsequent und ohne Rücksicht auf andere seinen eigenen Vorteil sucht. Wie | |
Henry McHenry (Adam Driver). Der Mensch ist „so full of himself“, dass er | |
sogar seinen eigenen Namen zweimal trägt. | |
Leos Carax’ Albtraummusical „Annette“ hat ein Monster erschaffen: Henry | |
McHenry ist „The Ape of God“, unter diesem Titel steht der großgewachsene | |
Mann abends auf den Comedy-Bühnen der USA und macht, was Stand-up-Comedians | |
zuweilen so machen: provozieren wie Lenny Bruce, monologisieren wie Henry | |
Rollins, ein bisschen Chilly Gonzales steckt – allein outfitmäßig, McHenry | |
trägt Bademantel – auch noch drin. | |
Davor und danach wird sich vor dem Spiegel tüchtig selbst angeekelt, weil | |
man eben doch den Applaus des verachteten Publikums braucht. Und wenn die | |
in grüner Spitze gekleideten Backgroundsängerinnen Henrys Kamikaze-Oneliner | |
in feinsten, mehrstimmigen Harmonien wiederholen, schreien die | |
Zuschauer:innen vor Begeisterung: „Laugh, laugh, laugh!“ | |
Carax, der den Film nach Idee und Drehbuch des [1][US-amerikanischen | |
Art-Popduos Sparks (Ron und Russell Mael)] inszenierte, präsentiert mit | |
Henry McHenry den Prototypen eines Narzissten, einen toxischen, | |
energetischen Mann, der zunächst gar nicht mal so unsympathisch rüberkommt. | |
Denn auch Supernarzissten verlieben sich – Henry hat sich dafür die | |
gefeierte Sopranistin Ann (Marion Cotillard) erwählt, und sie sich ihn. | |
Opulent und opernhaft tanzen, turteln und toben die beiden umeinander | |
herum, kitzeln sich, lobpreisen sich, nicht mal beim Cunnilingus kann Henry | |
lange die Klappe halten: „We love each other so much“ – und das, | |
pointierterweise, kurz nachdem er zwischen ihren Beinen wieder auftaucht. | |
Von der Kamerafrau Caroline Champetier wird das Ganze wild, fantasie- und | |
liebevoll in großen, düsteren Bildern eingefangen. | |
## Eine schwierige Partnerschaft | |
Denn dass eine Beziehung zwischen zwei (unterschiedlich angelegten) | |
Frontschweinen selten gut geht, ist eine der Binsenweisheiten, die die | |
Grundlage für „Annette“ bilden. | |
Es kommt darum, wie es kommen muss: Carax erzählt rasch und mit der Hilfe | |
von ein paar eingestreuten „News“-Blitzen eine schwierige Partnerschaft, | |
die spätestens mit der Geburt der Tochter Annette den Bach runtergeht – | |
Anns Bühnenkarrierestern steigt, der von Henry sinkt, „verliebt sein macht | |
krank“, gibt er ironiefrei im Comedyclub zu, und reproduziert die alte | |
misogyne Mär des Ewigweiblichen, das den Männergeist vom kreativen | |
Schaffen abhält. | |
Dabei ist das gemeinsame Baby Annette „a doll“, und zwar im wortwörtlichen | |
Sinn: Es handelt sich um eine Bauchrednerpuppe. | |
Und das alles, den Narzissmus, die Misogynie, die Liebe, die | |
Bauchrednerpuppe mit ihren schwergängigen Knopfaugen, das Artifizielle der | |
Settings, den Surrealismus muss man sich nun auch noch gesungen vorstellen: | |
„Annette“ ist 100 Prozent Musical – zumindest das, was eine Popband wie | |
Sparks sich darunter vorstellt. Kann das, beim Geiste von Oscar Hammersein, | |
Cole Porter, Stephen Sondheim und dem lebendigen Andrew Lloyd Webber | |
überhaupt gut gehen …? | |
## Liebevolles Zitat und höhnische Parodie | |
Die Frage lässt sich kaum beantworten. Der Film beginnt furios und | |
erleuchtend, sämtliche Beteiligten, inklusive Schauspieler:innen, Carax und | |
seine Tochter, legen eine großartige, per Plansequenz gedrehte „May we | |
start?“-Nummer hin, stürmen aus dem Studio auf die Straße, marschieren im | |
Takt singend frontal auf die Kamera zu, in jener klassischen | |
Musical-Ensemble-Ansprache zum Publikum beziehungsweise zur vierten Wand: | |
Hier erlebt man liebevolles Zitat und höhnische Parodie zugleich. Auch | |
einige andere Lieder, von Sparks mit ihrem typischen Pathos unterlegt, sind | |
enorm gelungen. | |
Doch „Annette“, dessen Story kruder und alberner und leider auch nerviger | |
wird, je tapferer sich die bemühten, aber mediokren Sänger:innen | |
Driver und Cotillard an ihren Songs abstrampeln, verhakt sich nach einer | |
Stunde (und dann geht es noch 80 Minuten weiter) in der Kluft zwischen | |
Wollen und Können. | |
Sparks und Carax wollen ein Musical parodieren, sie wollen etwas anderes, | |
Neues schaffen, etwas, in dem Machos nach dem Cunnilingus singen, Frauen | |
Bauchrednerpuppen geboren werden und das Publikum interaktiv eingreift. | |
Doch sie können es nicht wirklich. Denn um etwas zu parodieren, darf man es | |
lieben oder hassen – vor allem muss man es durchdringen. | |
In der Idee des Singens um des Dramas wegen, die sich im Film auch auf die | |
Oper erstreckt – „Ich sterbe jeden Abend“, schmettert Sopranistin Ann mit | |
großem Bohei –, steckt jedoch eine bei den Machern erahnbare, dünkelhafte | |
Vermutung des Unterkomplexen: Es stimmt, Musicals wirken oft grässlich | |
cheesy, und Opern sind nicht vorbei, bis „the fat lady sings“. | |
Beides ist musikalisch, technisch und dramaturgisch aber absolut komplex. | |
In den zugrundeliegenden Storys lauern meist ernstzunehmende Konflikte, sei | |
es der [2][Diskurs um Migration und Außenseitertum in „West Side Story“] | |
oder um Korruption und willkürliche Gewalt in „Fidelio“. | |
## Ein narzisstisch-toxischer Mann | |
Das Drehbuch, auf das sich der Regisseur von „Annette“ bezieht, ist dagegen | |
eine dürftige Sammlung von Klischees – der narzisstisch-toxische Mann, | |
dessen Eigensucht nicht mal vor der Ausbeutung des eigenen Kindes | |
haltmacht; die sich jeden Abend hingebende Frau; der von Simon Helberg | |
gespielte unzufriedene Korrepetitor, der eigentlich Dirigent sein will; das | |
geistlose Publikum, das den Comedian belacht, aber sein Leid nicht wirklich | |
versteht. | |
Keiner von diesen potenziell interessanten Charakterzügen wird von Carax | |
und Sparks unterfüttert, keine Figur bekommt eine zweite Ebene: Sparks | |
haben ein Drehbuch aus Tableaus abgeliefert, die Carax nicht wirklich | |
sinnvoll zusammenzufügen vermag. | |
Nicht mal der chorisch eingefügte Hinweis auf eine #MeToo-Vergangenheit des | |
notorischen Henry erfährt ein Payback. Stattdessen hält man sich kollektiv | |
mit dem Singen der wackeligen Handlung auf. In Liedern, die wie | |
Musicalsongs klingen könnten, aber eher einem Konzeptalbum gleichen. | |
Irgendwo zwischen dieser Art von Naserümpfen und dem heimlichen Wunsch, die | |
Musik auf fast sämtlichen sinnlichen Ebenen darzubieten, bewegt sich | |
„Annette“. | |
## Das fliegende, surreale Baby Annette | |
Um es klar zu sagen: Ein sehenswerter Trip ist dieser Film dennoch. | |
Selbstverständlich machen die Bilder des „Die Liebenden von | |
Pont-Neuf“-Regisseurs großen Spaß – der wie ein Stück Weißkäse strahle… | |
Vollmond, das fliegende, surreale Baby Annette, das durch seine | |
Engelsstimme zu Henrys Broterwerb wird, der wütende Henry, der zum | |
„Dampfablassen“ in einen Nachtclub geht und dort betrunken und | |
selbstmitleidig vor sich hin sinniert: „Wie kann man mich lieben? Ich bin | |
hässlich und uncharmant.“ | |
Der Fleiß, mit dem Adam Driver alias Henry den Noten folgt und permanent | |
eine Oktave über seiner Sprechstimme zu belcantieren versucht, ist zudem | |
beeindruckend. Cotillard hat dagegen weniger Vokaleinsätze – ihre | |
Opernarien wurden von einer ausgebildeten Mezzosopranistin gedoubelt. | |
Das, was Carax und Sparks vielleicht im Sinn hatten, den alternativen, | |
anarchischen Musikfilm, gibt es übrigens längst: Die Verfilmung des | |
gleichnamigen Musicals als „Rocky Horror Picture Show“, „Breaking Glass“ | |
von Brian Gibson, Alan Parker inszenierte mit „Fame“ und zwei Jahre später | |
mit dem sinisteren „The Wall“ Träume und Albträume von Künstler:innen. | |
„Annette“ sieht zum Teil klasse aus. Emotional bleibt man aber draußen, im | |
Dunkel des Publikumsraums. Die vierte Wand ist undurchdringlich. | |
15 Dec 2021 | |
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## AUTOREN | |
Jenni Zylka | |
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