# taz.de -- Sängerin Martha Wainwright: „Ich gehöre auf die Bühne“ | |
> Die kanadische Singer-Songwriterin Martha Wainwright über Kinder, | |
> schmerzvolle Trennungen, Familie, Musik und den Sinn des Lebens. | |
Bild: „Ich wollte wie Nina Simone und Judy Garland sein“ – Martha Wainwri… | |
taz am wochenende: [1][Martha Wainwright], nach eineinhalb Jahren sind nun | |
wieder Live-Konzerte möglich. Wie fühlt sich das jetzt an? | |
Martha Wainwright: Wir sind erstmals nach langen Monaten wieder auf Tour. | |
Und ich spüre Unsicherheit. Wir sind offensichtlich noch nicht durch die | |
Pandemie, und es ist unklar, welche Konsequenzen sie langfristig haben | |
wird. | |
Wie sind Sie selber durch der Pandemie gekommen? | |
Im Großen und Ganzen gut, wir waren in Montréal und haben viel Zeit im | |
Freien verbracht. Die Kinder hatten Präsenzunterricht in der Schule. Ich | |
war beschäftigt mit dem Album und dem Buch, an dem ich seit Jahren | |
schreibe. Und ich habe regelmäßig Livestreams gemacht, Konzerte aus meinem | |
Homestudio. | |
Wie hat der Lockdown das Album beeinflusst? | |
Es ist kein Pandemie-Werk. Die meisten Songs habe ich zuvor komponiert. | |
Durch den Lockdown ging alles viel langsamer. Wir mussten getrennt | |
voneinander arbeiten, ich saß in meinem Studio und sang, während mein | |
Produzent Pierre Marchand weit weg am Computer die Aufnahme steuerte. Ich | |
konnte viele Entscheidungen nicht selbst treffen. Es fühlte sich trotzdem | |
gut an und hat auch der Musik gutgetan. Aber es hatte sich hingezogen. Aus | |
ganz persönlichen Gründen. Was macht da schon ein Jahr mehr oder weniger? | |
Es ist das Fazit einer schwierigen und schmerzhaften Zeit. | |
Sie sprechen über Ihre Scheidung von Brad Albetta, Vater Ihrer beiden | |
Söhne, mit dem Sie lange künstlerisch zusammengearbeitet haben. | |
Es war wirklich eine schlimme Trennung. Nach dem Tod meiner Mutter Kate | |
MacGarrigle 2010 und der Frühgeburt meines ersten Kindes hat mich das | |
erneut richtig umgehauen. Ich musste weiterarbeiten und touren, durfte die | |
Kinder nicht mitnehmen. Wenn ich zurückkam, erlaubte er mir oft nicht, sie | |
zu sehen, weil es nicht „meine“ Woche war. Vor Gericht wurde mir praktisch | |
gesagt, als Sängerin sei ich Zirkusvolk. Ich hatte Angst, dass mir meine | |
Kinder weggenommen werden. Mir ging es psychisch nicht gut. Musik hat mich | |
gerettet, auf der Bühne zu stehen und zu spielen war wie Medizin. Das habe | |
ich zwei Jahre gemacht, bis ich merkte, dass es kein Problem löst. Die Kids | |
wurden mir gegenüber scheu, das war alarmierend. Mir wurde klar, ich muss | |
mehr für sie da sein, mich um die Schule kümmern, all das. Dabei wollte ich | |
mehr wie Nina Simone und Judy Garland sein, eine arbeitende Künstlerin, die | |
Bühnenleben und Muttersein zusammenkriegt. Eine Weile war ich wie gelähmt, | |
dann fing ich wieder an, Songs zu schreiben. | |
Die Single „Love Will Be Reborn“ soll der erste Song gewesen sein, der | |
dabei entstanden ist. Erstaunlich, weil er so gutgelaunt klingt … | |
Ich war selbst überrascht, es sprudelte nur so aus mir heraus, total | |
lebensbejahend. Der nächste Song, „Body and Soul“, handelt von einer | |
misshandelten Ehefrau, die sich nicht unterkriegen lässt. Das wurde mein | |
Motto. Ich wollte nicht in den Fluss springen, ich wollte nicht vor den | |
Kindern in Tränen ausbrechen, ich bliebe aufrecht. Und das mache ich, wie | |
ich es am besten kann: Ich komponiere und singe. | |
Musik als Therapie? | |
Ich glaube nicht, dass mein Leben ohne Musik Sinn hätte. Alles, was ich | |
mache, [2][definiert sich über Musik]. Wenn ich unglücklich bin oder | |
ausflippe, nehme ich die Gitarre und versuche auszudrücken, wie es mir | |
geht, und meine Erfahrungen zu reflektieren. Wie bei „Report Card“, einem | |
Stück über Scheidungskinder und die Momente, die man als getrenntlebende | |
Eltern verpasst. | |
Was passiert, wenn Sie diese Stücke live spielen? Hat das etwas Heilendes? | |
Ich will emotional so offen wie möglich sein, das ist, was ich anzubieten | |
habe. Ich mache keinen Stepptanz im Paillettenkleid, ich trage Lieder über | |
Trennung, Verlust und Schmerz vor. Aber keines ist nur deprimierend, es | |
taucht immer wieder ein Silberstreifen auf, eine ironische Zeile oder die | |
Melodie wechselt plötzlich ins Fröhliche, ganz im Widerspruch zum Text. Ich | |
bin tief verletzt, aber es bringt mich nicht um. Sonst könnte ich das auch | |
nicht allabendlich singen. | |
Bei aller Rückschau ist das Album auch ein Neuanfang. | |
Weil ich mit 42 plötzlich und unerwartet noch mal einen ganz tollen | |
Menschen kennenlernen durfte. Ich konnte es kaum fassen: Was passiert da? | |
Er ist einige Jahre älter, wahnsinnig liebevoll, gütig und unterstützend. | |
Das hat viel von meiner Wut genommen und auch die Musik ausgewogener werden | |
lassen. Statt allem Schlechten, das ich dem Vater meiner Kinder wünschte, | |
gibt es plötzlich einen Mensch, der mich wieder lieben lässt. Und er ist | |
kein Musiker, sondern Handwerker. Ein Glück! | |
Wie haben Sie Ihre Stimme gefunden, beim Komponieren und Singen? | |
Ich komme aus einer hochmusikalischen Familie, seit ich denken kann, bin | |
ich von Musik umgeben. Als ich selbst anfing, entschied ich mich für die | |
Gitarre als Instrument, weil ich sie allein für mich und leise spielen | |
kann. Ich mache die Tür zu, und keiner hört mich. Das prägt bis heute meine | |
Songs. Wenn ich ganz für mich bin, kann ich seltsame Sachen ausprobieren, | |
mit Texten und mit der Stimme, und finde damit leichter Zugang zu meinem | |
Innersten. | |
Ist das Aufwachsen in einer Familie erfolgreicher Musiker:innen ein | |
zweischneidiges Schwert? | |
Ich glaube manchmal, wenn ich nicht aus dieser Familie stammte, wäre es | |
überraschender gewesen und ich wahrscheinlich berühmter geworden. Es ist | |
aber genauso gut möglich, dass jede Chance, die sich mir bot, damit zu tun | |
hatte, dass ich die Tochter von Kate und Loudon und die Schwester von Rufus | |
bin. Natürlich haben wir auch Konkurrenzdenken wie die meisten Musiker. Wir | |
alle wollen wichtige Stimmen der Gegenwart sein. Aber ich wäre heute nicht | |
die Künstlerin, die ich bin, ohne meine Familie. | |
Ihre Eltern haben sich früh getrennt, auch Sie sind also ein | |
Scheidungskind. Wie hat Sie das geprägt? | |
Ich habe meine eigene Ehe gründlich missverstanden, weil ich dachte, ich | |
könnte nach der Scheidung ein Leben wie meine Mutter führen, dass mich | |
befreien würde und ich das Sorgerecht für die Kinder bekäme. Aber so ist es | |
nicht gelaufen, und es fällt mir sehr schwer, mich damit abzufinden. Meine | |
Eltern sind immer sehr offen mit ihrer Trennung umgegangen. Zu offen | |
vielleicht. Ich versuche, meine Kinder mehr zu schützen, sie sind noch jung | |
und brauchen nicht jedes schmutzige Detail zu erfahren. | |
Mittlerweile sind Sie in das Haus Ihrer verstorbenen Mutter gezogen. Sicher | |
ein Ort mit vielen Erinnerungen? | |
Oh ja, ich bin darin aufgewachsen, bevor ich dann 17 Jahre in New York | |
lebte. Nach ihrem Tod fühlte es sich richtig an, zurückzukommen, mich der | |
Vergangenheit zu stellen. Montréal ist eine Stadt, in der es sich gut leben | |
lässt. Im Viertel gibt es noch ein paar alte Leute, die mich öfter mal für | |
meine Mutter hielten. Wahrscheinlich trinken sie schon tagsüber, keine | |
Ahnung. Zuerst dachte ich, ich muss hier schnell wieder weg, aber dann fand | |
ich es ganz tröstlich, weil meine Mutter wirklich gemocht wurde. Und jetzt | |
nehme ich so ein bisschen ihren Platz ein, und die Leute wissen inzwischen, | |
wer ich bin. Es fühlt sich gut an. | |
Was würden Sie Ihrem früheren Ich mit den Erfahrungen von heute mit auf den | |
Weg geben? | |
Ich würde mir gern sagen: „Du bist nicht hässlich. Du bist nicht schlecht. | |
Du bist nicht weniger als die anderen.“ So dachte ich damals über mich. | |
Aber ich würde mir auch raten: „Du kannst das besser. Gib dir ein bisschen | |
mehr Mühe. Trink nicht ganz so viel.“ Aber vermutlich würde ich es nicht | |
hören wollen. Einige Leute hatten es damals versucht, vergeblich. Auch wenn | |
die Beziehung mit Brad keine besonders gesunde war, haben wir uns doch | |
geliebt, haben diese beiden wundervollen Kinder und einige tolle Alben | |
veröffentlicht. Es gab einen Grund, warum wir zusammenkamen. Und einen | |
Grund, warum es irgendwann nicht mehr funktionierte. | |
Was erhoffen Sie sich von Ihrem neuen Leben? | |
Mein wichtigstes Ziel ist, die Zukunft meiner Kinder so positiv wie möglich | |
zu gestalten. Sie interessieren sich hoffentlich bald weniger für ihre | |
Eltern dafür mehr für Freunde, Videospiele und die Schule. Auf diesem Weg | |
will ich sie unterstützen, auch wenn es bedeutet, dass ich die Klappe halte | |
und meine Tränen, mein Wollen und Wünschen hintanstelle. Aber mir ist auch | |
wichtig, mich in alldem nicht selbst zu vernachlässigen. Ich will wieder | |
raus auf die Bühne, da gehöre ich hin. | |
21 Aug 2021 | |
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## AUTOREN | |
Thomas Abeltshauser | |
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