# taz.de -- Filmfestival von San Sebastián: Wieder in Anwesenheit des Publikums | |
> Nach dem Filmfestival in Venedig zeigte man nun auch in San Sebastián | |
> Präsenz – zumal mit einem erstaunlich resilienten Filmjahrgang. | |
Bild: Szene aus der Serie „Patria“, einer Auseinandersetzung mit dem Trauma… | |
Xirimiri heißt der leichte Nieselregen im Baskenland, der zunächst nach | |
wenig aussieht, sich aber über Tage hinziehen kann, erst langsam klamm | |
macht, bis er durch alle Schichten einsickert und schließlich bis auf die | |
Knochen durchnässt. Er wurde zum Sinnbild in Fernando Aramburus Romanepos | |
„Patria“ über Vergessen, Vergeltung und Versöhnung in der vom ETA-Terror | |
traumatisierten Region. | |
Die Verfilmung des Bestsellers war nun der wichtigste spanische Beitrag auf | |
dem Internationalen Filmfestival in San Sebastián, das am Wochenende zu | |
Ende gegangen ist, an ebenjenem Ort, an dem auch der Mehrteiler spielt. Es | |
nieselt nicht bloß, es schüttet oft in Strömen in den acht einstündigen | |
Episoden, in denen Aitor Gabilondo aus verschiedenen Perspektiven und auf | |
mehreren Zeitebenen die Geschichte zweier ehemals befreundeter Familien | |
erzählt. | |
Seit dem ungeklärten ETA-Mord an einem der Väter haben sie sich entfremdet. | |
Als die separatistische Untergrundorganisation nach einem halben | |
Jahrhundert und rund 830 Morden offiziell den Waffenstillstand erklärt, | |
kehrt die Witwe in ihr altes Dorf zurück, um die Wahrheit herauszufinden, | |
und stößt dort auf Schweigen und Missgunst. | |
In gedeckten Farbtönen aufwendig und präzise inszeniert, entsteht eine | |
Atmosphäre, in der die Vergangenheit sich wie ein Schleier über die | |
Gegenwart legt, Schuld und Trauer in das Leben der Protagonisten | |
eindringen wie der Xirimiri, das Miteinander verstummen lassen, Beziehungen | |
und Freundschaften vergiften. | |
Nach über drei Jahren Entstehungszeit und der coronabedingten | |
Startverschiebung im Mai war die Anspannung zur Weltpremiere am Ort des | |
Geschehens, wo bis heute die Wunden der Terrorjahre noch lange nicht | |
verheilt sind, entsprechend hoch. Mit dem parallelen Serienstart am Sonntag | |
auf HBO in Spanien und 26 weiteren Ländern dürften sich nicht nur etliche | |
Vorbehalte relativieren, sondern auch der Diskurs um den Umgang mit der | |
jüngeren Geschichte an Dynamik gewinnen, so verbittert und verhärtet die | |
Fronten auch sind. | |
## Nur ein spanischer Beitrag im internationalen Wettbewerb | |
Auch einer der zahlreichen baskischen Spielfilme im Festivalprogramm, „Ane“ | |
von David Pérez Sañudo, erzählt von ETA, hier der letzten Generation | |
gewalttätiger Separatisten im Jahr 2009, und einer 17-Jährigen, die in den | |
Untergrund abtaucht. Zwar etwas holprig inszeniert, reflektiert das Drama | |
erhellend die Verwerfungen, die in der Gegend herrschen. | |
Im internationalen Wettbewerb um die Goldene Muschel selbst fand sich nach | |
einigen starken spanischen Jahrgängen diesmal nur ein einheimischer | |
Beitrag. „Akelarre“ erzählt in oft betörenden Bildern von einer | |
Hexenverfolgung im Jahr 1609, die Pablo Agüeros Film mit großer | |
postmoderner Geste zur misogynen Machenschaft eines Richters gegen junge | |
Feministinnen umdeutet und damit lediglich Mythen der baskischen Geschichte | |
wiederholt, ohne eine eigene Haltung zu haben, und sich schließlich mit | |
einem mutlosen Ende aus der Affäre zieht. | |
Wie relevant Filmemacher von spanischer Gegenwart erzählen können, zeigen | |
dagegen zwei sehr unterschiedliche Produktionen. Die zweite große Serie des | |
Festivals, „Antidisturbios“, beleuchtet den Alltag einer Polizeieinheit in | |
Madrid. Minutiös wird in der ersten halben Stunde der Einsatz in einem | |
Häuserblock gezeigt, wo sich Dutzende Aktivisten in einer Wohnung | |
verschanzt haben, um deren Räumung zu verhindern. | |
Auch wenn die sechs Polizisten heillos überfordert sind, gehen sie auf | |
richterlichen Befehl gegen die Besetzer vor, die Situation eskaliert und | |
ein Bewohner stürzt in den Tod. Die Polizeigewalt wird nicht | |
gerechtfertigt, die Serie seziert die Folgen des Manövers, die | |
Nachforschungen, das Vertuschen und die Korruption auf allen Ebenen, die | |
Schreibtischtäter im Hintergrund, die alle Verantwortung abwälzen. | |
Von staatlichen Räumungen handelt auch „La última primavera“ (Der letzte | |
Frühling), das Regiedebüt der in Brühl geborenen Isabel Lamberti, die dafür | |
zu Recht den Nachwuchspreis erhielt. Sie porträtiert eine Roma-Familie, | |
die aus ihrer Barackensiedlung außerhalb Madrids vertrieben werden soll. | |
Die Mitglieder spielen sich in diesem Doku-Fiction-Hybrid selbst und ihre | |
Überlebenskunst am Rande der Wohlstandsgesellschaft wirkt gerade dadurch | |
nie voyeuristisch, sondern selbstermächtigend und sehr würdevoll. | |
## Viel Hochkarätiges ist dem Ausfall von Cannes gedankt | |
Nach Venedig Anfang September war San Sebastián nun das zweite A-Festival, | |
das seit Beginn der Pandemie in physischer Form stattfand. Und es war stark | |
von Corona geprägt, im Schlechten wie im Guten. Sonst hinter den drei | |
Großen Berlin, Cannes und Venedig immer zweite Riege, bot es diesmal 17 | |
Beiträge des ausgefallenen Cannes-Jahrgangs, darunter Hochkarätiges wie das | |
Coming-out-Vexierspiel „Sommer 85“ von François Ozon und Thomas Vinterbergs | |
Trinker-Tragikomödie „Another Round“, deren Männer-Ensemble um Mads | |
Mikkelsen am Ende gemeinsam den Darstellerpreis erhielt. | |
Die große Gewinnerin war allerdings eine nahezu Unbekannte: Die Georgierin | |
Dea Kulumbegashvili überzeugte in ihrem Regiedebüt „Dasatskisi“ (Beginn) | |
mit dem bildgewaltigen Porträt einer Frau, die der einengenden Welt der | |
Zeugen Jehovas entfliehen will, die Jury um Präsident Luca Guadagnino | |
derart, dass das Kunstdrama gleich vier Hauptpreise abräumte, die Goldene | |
Muschel als bester Film und Auszeichnungen für Regie, Drehbuch und Ia | |
Sukhitashvili als beste Darstellerin. | |
Das mag man einseitig finden, doch „Dasatskisi“ war der alles überragende | |
Film des Wettbewerbs, ein verstörendes Werk, das die Filmsprache erweitert | |
und dessen Bilder nicht mehr aus dem Kopf gehen. | |
Es wirkte wie ein Wunder, dass dieses Festival trotz einer grassierenden | |
zweiten Infektionswelle in Spanien, dem in Europa am stärksten von der | |
Pandemie betroffenen Land, überhaupt stattfinden konnte. Zu verdanken ist | |
es der besonnen und koordiniert agierenden Festivalleitung unter José Luis | |
Rebordinos, die mit großem Aufwand Sicherheitsmaßnahmen installierte. So | |
konnte auch das reguläre Publikum Filme sehen und es wurde vermieden, dass | |
San Sebastián zum abgeriegelten Branchentreff wurde. | |
All das funktionierte hervorragend und mit gelassener Solidarität fast | |
aller Beteiligten. Nur der französische Regisseur Eugène Green glaubte, | |
seine individuelle Freiheit rechtfertige die Gefährdung von Mitmenschen, | |
und weigerte sich bei der Vorstellung seines Films beharrlich, einen | |
Mundschutz zu tragen. Er wurde schließlich des Kinos verwiesen, seine | |
Akkreditierung entzogen. | |
## Abel Ferraras Überraschungsfim „Sportin' Life“ | |
Am Ende lief mit Abel Ferraras „Sportin’ Life“ noch ein Überraschungsfil… | |
der wie ein Schlusskommentar auf diesen merkwürdigen, resilienten | |
Festivaljahrgang wirkte. Der widerspenstig-chaotische Filmemacher aus der | |
Bronx hatte erst im Februar auf der Berlinale, dem letzten A-Festival vor | |
dem Lockdown, den Spielfilm „Siberia“ präsentiert und dort alles mit einem | |
Kamerateam dokumentiert: die Premiere am Potsdamer Platz, die Interviews | |
mit peinlich banalen Fragen, das Livekonzert mit seiner Band. | |
Zurück in seiner Wahlheimat Rom, kommt plötzlich die Welt zum Stillstand, | |
und aus Ferraras Auftragsarbeit für einen französischen Modekonzern wird | |
unversehens ein Film-Tagebuch über die Pandemie, das Leben und die Kunst. | |
Der langjährige, inzwischen cleane Drogensüchtige erweist sich dabei als | |
verquerer Freigeist und Überlebender der eigenen Apokalypse, den so schnell | |
nichts umhaut. | |
Im kleinen, spärlich besetzten Kellerkino in San Sebastián, wo am letzten | |
Festivaltag noch knapp 40 Akkreditierte für diesen Film ausharrten, tauchte | |
plötzlich Ferrara selbst im Saal auf. Ganz selbstverständlich trug der | |
weißhaarige Kino-Anarcho solidarisch Mundschutz und plauderte mit dem | |
Publikum. | |
Zum Abschied reckte der 69-Jährige die Faust in die Höhe und rief: „Stay | |
safe!“ Am Ende ließ sich die Geste wohl auch als Ferraras Mittelfinger an | |
die Unverbesserlichen lesen. | |
29 Sep 2020 | |
## AUTOREN | |
Thomas Abeltshauser | |
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