# taz.de -- Filmfestival Dok Leipzig: Coronafilme als Pflichtübung | |
> Schusssichere Kapuzenjacken, Schrecken des US-Bürgerkriegs: Das | |
> Filmfestival Dok Leipzig lief kurz vorm Teillockdown weitgehend online. | |
Bild: Im Dokumentarfilm „Bulletproof“ proben Lehrer den Ernstfall eines bew… | |
Probealarm an einer High School in Texas City. Die Lehrer:innen üben eine | |
Tür zu verbarrikadieren, Wunden zu verbinden. Ein System von RFID-Sensoren | |
scannt die Ausweise von Lehrer:innen und Schüler:innen und kann für jeden | |
Raum auflisten, wie viele Menschen sich in ihm aufhalten. Vorsorge für den | |
Fall einer Evakuierung. | |
Der Dokumentarfilm „Bulletproof“ von Todd Chandler dokumentiert die | |
Sicherheitsindustrie, die sich als Reaktion auf die Allgegenwart von | |
Schusswaffen in den USA herausgebildet hat. Die Schule sichert sich mit | |
Überwachungskameras, verstärkten Türen, einem automatisierten | |
Verriegelungssystem und einem Schrank voller automatischer Waffen. | |
Eine junge Frau schneidert daheim Kapuzenjacken mit Kevlar-Einlagen, um | |
sich gegen Angreifer zu schützen. Auf einer Messe versuchen Firmen ihre | |
Produkte unter die Leute zu bringen. „Bulletproof“ zeigt die tragische | |
Absurdität eines Rüstungswettlaufs, der nur zu verlieren ist, solange | |
Schusswaffen so einfach zugänglich bleiben. | |
## Verlagerung ins Netz | |
Tood Chandlers Film war zu sehen auf dem Internationalen Leipziger Festival | |
für Dokumentar- und Animationsfilm, das in diesem Jahr wie so viele andere | |
Festivals vorrangig online lief, nur ein paar kleine Satelliten sollte es | |
am Ort geben. Umbrüche allenthalben: [1][Dok Leipzig war nicht nur erstmals | |
weitgehend ein Onlinefestival, diese Ausgabe war auch die erste unter | |
Christoph Terhechte], dem ehemaligen Leiter des Berlinale-Forums. | |
Gerade mal vier Jahre dauerte die Intendanz von Leena Pasanen, deren | |
Anfänge einen Bruch mit vielen Traditionen in Leipzig bedeuteten. Die | |
Verlagerung ins Netz machte es schwer, einen Eindruck zu bekommen, was die | |
Leitung durch Terhechte, der in seinen letzten Forumsjahren kein allzu | |
glückliches Händchen mehr hatte, für das Festival bedeutet. | |
Die Dominanz von Fernsehproduktionen, die die Festivalbesuche schon in der | |
Vergangenheit etwas mühsam machte, bleibt auch im Onlineangebot | |
ungebrochen. Von Zeit zu Zeit rollt man beim Sehen ob der standardisierten | |
Formatierung dieser Fernsehdokumentarfilme mit den Augen oder klappt sie | |
kurz zu für ein paar Momente der Erholung. | |
## Keine Identifikationsfigur | |
Eine glorreiche Ausnahme: Der US-Filmemacher Jim Finn hat mit „The | |
Annotated Field Guide of Ulysses S. Grant“ einen der sehenswertesten Filme | |
zum amerikanischen Bürgerkrieg und dessen Mythologisierung der letzten | |
Jahre gedreht. Entlang der Figur des [2][Säufers, Offiziers und späteren | |
Präsidenten Ulysses S. Grant] bürstet Finn die Geschichte des Bürgerkriegs | |
gegen den Strich. Grant, der oft zum Helden der Nordstaatenerzählung wird, | |
erscheint bei Finn als wechselhaft, nicht zur Identifikationsfigur | |
geeignet. | |
Grant ist Autor der berüchtigten antisemitischen „General Order No. 11“, | |
die die Vertreibung von Juden aus dem Armeedistrikt um Vicksburg anordnete, | |
und war zugleich einer der fähigsten Feldkommandanten der USA. In den | |
Naturaufnahmen der Schlachtfelder und Schauplätze wird das Ausmaß des | |
Blutbades merkbar, und bisweilen ergeben sich Brücken in die Gegenwart. | |
Finn hat seinen Film analog auf 16-mm-Film gedreht, was einerseits die | |
Schönheit der Natur betont, Familienerinnerungen anklingen lässt, | |
andererseits an Horrorfilme aus den 1970er Jahren erinnert. | |
All das evoziert angenehm zurückhaltend den Horror des Bürgerkriegs, der | |
selbst heute noch nicht allgemein als der Kampf gegen ein mörderisches | |
rassistisches System im Süden der USA gesehen wird, das für das Recht auf | |
Sklaverei kämpfte. Finn lässt zudem die Verstrickungen des Nordens mit dem | |
Süden, die der Politik als notwendig galten, immer wieder aufblitzen. Und | |
mit kleinen Animationen aus Brettspielen lässt Finn die Kommerzialisierung | |
der Erinnerung anklingen. | |
## Vor dem Algerienkrieg nach Frankreich | |
„Was bedeutet das, Algerier zu sein, ohne nach Algerien zu fahren?“ Lina | |
Soualem porträtiert in „Their Algeria“ ihre Großeltern, Aïcha und Nabil | |
Soualem, die noch vor dem Algerienkrieg nach Frankreich kamen. Mit über 70 | |
Jahren hat sich ihre Großmutter von ihrem Großvater getrennt. Nach | |
Jahrzehnten der Ehe versuchen die beiden nun in ein Leben für sich | |
zurückzufinden. | |
Linas Vater, der Schauspieler Zinedine Soualem, wuchs auf „mit dem Mythos, | |
zurückzukehren“. Lina Soualem strukturiert den Film als Doppelporträt ihrer | |
Großeltern, jedem der beiden ist etwa eine Hälfte des Films gewidmet. Der | |
berühmte Vater bleibt im Hintergrund. Von den beiden Großeltern macht es | |
keiner der Enkelin leicht: Während der Großvater nur ungern redet, | |
überspielt die Großmutter unliebsame Fragen mit einem Lachen. | |
Als die Regisseurin schließlich Laaouamer, ein kleines Dorf im Norden | |
Algeriens nahe Setif, aufsucht und ihre Familie ausfindig macht, bringt das | |
zumindest den Großvater zum Sprechen. | |
„Their Algeria“ bietet einen intimen, liebevollen Blick auf das Leben | |
zweier Verwandter, denen es das Land ihrer Wahl nicht leicht gemacht hat. | |
Das neue Leben, das die Großeltern im Alter beginnen, erlaubt andere, neue | |
Blicke zurück. So ist „Their Algeria“ ein Dokument des Zulassens von | |
Erinnerung. | |
## Prestigeprojekt der DDR-Energiepolitik | |
„Zwei, eins, bitte durchgehen. Keine Kontamination“, versichert eine | |
automatische Stimme zu Beginn von [3][Carsten Raus] „Atomkraft Forever“. | |
Den Anfang des Films bilden Aufnahmen vom Rückbau des KKW Greifswald, eines | |
Prestigeprojekts der DDR-Energiepolitik. Raum für Raum muss der radioaktive | |
Siff entfernt werden, 33 Jahre sind dafür veranschlagt. Dann wird der Müll | |
Kiste für Kiste nach Strahlenwerten befunden und entsorgt. | |
Zur Eröffnung des KKW hieß es in einem Werbefilm der DDR: „Das Atom sei | |
Arbeiter und nicht Soldat.“ Aktuell ist das Atom im KKW Greifswald nur mehr | |
Arbeitsrisiko für die Arbeiter. Im westdeutschen Gegenstück zum | |
DDR-Werbefilm bekommt die Moderatorin Carolin Reiber vom Atomkraft-Onkel | |
das Kernkraftwerk im bayerischen Gundremmingen erklärt. Bei der Bildpracht | |
des Industriefilms fällt einem dann auch gleich auf, woher Carsten Raus | |
visuelle Vorbilder stammen. Sein oberflächengewachster Film lässt sich die | |
Verlockungen keines Bildes entgehen. | |
Zu Recht weist Rau auf die praktischen Probleme hin, die der deutsche | |
Ausstieg aus der Kernenergie mit sich bringt. Dass der Müll, den die | |
„saubere Technik“ hinterlässt, mit keinem Wort anklingt, rückt den Film | |
jedoch leider in die Nähe eines filmischen Lobbyistentraums. | |
## Dokumentarfilm aus dem Londoner Lockdown | |
Auch bei Dok Leipzig galt: Die Onlineversionen von Festivals helfen | |
manchmal besser zu verstehen, wie die Festivals auch offline schon | |
funktionierten. Die Balance zwischen einer Messe für Einkäufer:innen von | |
Fernsehsendern und Vertrieben und einem Festival, das für das Publikum von | |
Reiz ist, ist nie leicht. Bei der diesjährigen Onlineversion von Dok | |
Leipzig fehlte viel von dem, was das Festival für (Fach-)Besucher:innen | |
interessant macht. | |
Auch die Talks, die die Filmprogramme begleiteten, erfüllten eher das | |
Erwartbare und ergänzten die etablierten Talks zu Filmproduktionen | |
einzelner Länder durch ein paar „Corona und Film“-Veranstaltungen. Die | |
Filme zum Thema wie Peiman Zekavats kurzer Dokumentarfilm aus dem Londoner | |
Lockdown „E14“ verdeutlichten eher die Ratlosigkeit eines filmischen | |
Umgangs und verstärkten die Angst vor der Pflichtübung, Coronafilme zu | |
zeigen, die nächstes Jahr auf allen Festivals zu erwarten sein wird. | |
Am Ende eines Jahres voller Onlinefestivals ist Dok Leipzig leider ein | |
Beispiel, wie es eher nicht funktioniert: als Sparversion der | |
Offlineveranstaltung. | |
4 Nov 2020 | |
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## AUTOREN | |
Fabian Tietke | |
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