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# taz.de -- Kurzfilmtage Oberhausen online: Auf Seite der Unterdrückten
> Die Kurzfilmtage Oberhausen sind zum zweiten Mal online. Sie bieten
> mediale Traumatherapie, Solidarität als Störung und Blicke aufs
> Kolonialfilmerbe.
Bild: Tierköpfige Restaurantgäste und ein vierhändiger Koch: „Tang Jër“…
Hinter der Theke seines kleinen Restaurants ist Onfaaya Koch und
Zeremonienmeister zugleich. Mit der Hilfe einer Batterie aus vier Händen
kocht und schnippelt er für seine meist tierköpfigen Kunden. Die junge
Makhma kommt zum Frühstück, der Rausschmeißer Bara mit dem Hundekopf
fordert lauter als nötig, bedient zu werden, der fischköpfige
Gelegenheitsarbeiter Modou kommt vor allem, um über seine Situation zu
klagen.
Die arbeitslose Yassa Ginaar gerät mit Bara aneinander und wackelt empört
mit ihrem Hühnerkopf. In dem kleinen Raum des Restaurants verdichtet Selly
Raby Kanes Kurzfilm „Tang Jër“ Szenen aus dem urbanen Alltag in Dakar zu
einem futuristisch-fantastischen Trip.
Gemächlich laviert im nächsten Film der Rauch der langen, schmalen
Kent-Zigarette in die Luft. Die Hand, die die Zigarette hält, schnippt die
Asche von der Spitze, ohne sich dem Rhythmus der Musik zu fügen. Zigaretten
und die Musik Nino Rotas sind die Konstanten im „Café de Kinema“, gelegen
am Stadtrand von Tokio. Schweigend sitzen die Gäste des Cafés für sich an
ihren Tischen und genießen die Auszeit. Die junge argentinische Regisseurin
Sol Miraglia hat dem Ort ein kurzes Filmporträt gewidmet.
Lässig und ohne jedes Interesse für die Kamera läuft schließlich ein Elch
an einer Hütte vorbei. Marodierende Elche ziehen sich wie ein roter Faden
durch Virpi Suutaris humorvolles Porträt der finnischen Provinz „A People’s
Radio – Ballads from a Wooded Country“. Tierköpfige Restaurantgäste,
sinnierende Raucher_innen, singende Finnen und Elche – die Filmwelten der
Internationalen Kurzfilmtage funktionieren anders als die visuell normierte
Ästhetik von Netflix und das ZDF-Vorabendprogramm.
## Wut über politisches Versagen
Alle drei Filme sind Teil des diesjährigen internationalen Wettbewerbs der
Oberhausener Kurzfilmtage. Die [1][Kurzfilmtage laufen auch in diesem Jahr
wieder online]. Wie sonst im Kino präsentiert das Festival neben dem
internationalen einen deutschen und regionalen Wettbewerb sowie einen
Wettbewerb der Musikvideos.
Experimentalfilmfestivals sind Labore für die Artikulation der Welt in der
Sprache des Films. Wenig überraschend nähern sich einige der Filme des
Festivals dem Thema an, das wir alle seit etwa anderthalb Jahren an der
Backe haben: der Sars-CoV-2-Pandemie.
Der britische Experimentalfilmer John Smith nimmt sich mit dem gebotenen
Sarkasmus der Reaktion auf die Krise durch Boris Johnson an. Das
mantraartige Beschwören des Händewaschens schickt uns auf Zeitreise ein
Jahr in die Vergangenheit. Smiths „Covid Messages“ sind keine filmische
Offenbarung, aber ein durchaus sehenswerter Versuch, die Wut über
politisches Versagen in einen Film zu überführen.
Gegenüber den [2][nervigen Tagebuchfilmen aus den diversen Lockdowns, an
denen sich einige Filmemacher letztes Jahr versuchten], ist ein erster
Schritt gemacht. Der philippinische Regisseur Arden Rod Condez hat
unterdessen die allgegenwärtige Distanzierung eingefangen, indem er zehn
Paare aus seiner Heimatstadt mit der Kamera porträtiert. Herausgekommen ist
eine Collage der Intimität und Vertrautheit, die das Gegenbild bildet zur
erzwungenen Distanziertheit außerhalb des eigenen Umfelds.
## Montage der Vorahnungen
„Misty Picture“, der neuste Film der Oberhausen-Stammgäste Christoph
Girardet und Matthias Müller, zeigt eine weitere Umgangsweise auf. Girardet
und Müller montieren in gewohnter Weise bestehendes Material, dieses Mal
nähern sie sich auf diese Weise dem Anschlag auf das World Trade Center vor
20 Jahren. Die wiederkehrenden Bilder der beiden Türme verdichten sich zu
einer Montage der Vorahnungen, Ängste und des Verlusts, einer „medialen
Traumatherapie“ (Programmtext).
Der Kontrast zwischen „Misty Pictures“ und den Annäherungsversuchen an die
Pandemie macht sichtbar, wie lokal der filmische Blick auf die Pandemie
bislang noch ist. So lokal, dass man plötzlich Angst hat, demnächst im
schlimmsten Fall eine fiktionalisierte Version der
Ministerpräsidentenkonferenz im Fernsehen erdulden zu müssen.
Das Themenprogramm des diesjährigen Festivals setzt der pandemischen
Vereinzelung eine kollektive Gegenbewegung entgegen: „Solidarität als
Störung“. Im Programmtext heißt es: „Solidarität ist störend in einem
System, in dem Ungleichheit, Ausbeutung und Unterdrückung normalisiert
sind; sie ist eine Form von Widerstand gegen die Reduktion der menschlichen
Perspektive.“ Zum Auftakt des Programms laufen zwei Filme: „Ljubav“ (Die
Liebe) von Vlatko Gilić und „Io ho fissato il fuoco per sempre“ (Ich habe
das Feuer für immer fixiert) von Salvatore Insana.
## Solidarität, arbeiterzentriert
„Ljubav“ ist gedreht auf einer Brückenbaustelle. Langsam, sehr langsam
senkt sich das letzte fehlende Teil zu einem der vier Stahlstränge herab,
die das Gerüst der Brücke bilden. Langsam, sehr langsam klettert einer der
Bauarbeiter den hohen Brückenpfeiler herunter zu einer Besucherin (seiner
Frau?). Ein paar Meter das Tal hinunter dient eine Kiste als Tisch für
eine Essenspause. Während sie die Kiste mit einer Tischdecke bedeckt und
das Essen auftischt, tigert er auf und ab. Das Gespräch der beiden bleibt
unhörbar.
„Io ho fissato il fuoco per sempre“ ist entstanden aus einer Montage von
Archivmaterial des Archivs der Arbeiter- und Demokratiebewegung in Rom.
Insana fügt kurze Ausschnitte aus den Archivaufnahmen zu einer Reflexion
von Blickverhältnissen inner- und außerhalb des Filmbilds.
Die beiden Filme sind exemplarisch für ein Themenprogramm, das Solidarität
sehr klassisch, sehr arbeiterzentriert abhandelt. Die beiden Kuratorinnen
Aleksandra Sekulić und Branka Benčić haben ein Programm erstellt, das einen
ausführlichen Schwerpunkt auf Produktionen des ehemaligen Jugoslawien und
dessen Nachfolgestaaten legt, ergänzt um einige wenige Beispiele aus
anderen Regionen der Welt.
## Flucht vor der Abschiebung
Unter den neueren Produktionen ragt ein Film des Chto Delat Kollektivs
heraus. In „Museum Songspiel: The Netherlands 20XX“ flüchtet sich eine
Gruppe Geflüchteter vor der Abschiebung in ein Museum. Eine Aktion, die
Ratlosigkeit bei den Museumsleuten auslöst: „Sie sagen, dass sie Asyl
wollen im Museum. Jemand hat ihnen gesagt, die Kunst sei auf der Seite der
Unterdrückten.“ Eine Aussage, bei der der Vorgesetzte die Augenbraue hebt.
Der Film ist ein Singspiel, das seine Anleihen auf Brecht zurückführt.
Auch in diesem Jahr werden die Wettbewerbe und das Themenprogramm des
Festivals flankiert von einer Reihe von Einzelprogrammen. Diverse
Kurzfilmverleihe geben einen Einblick in ihr Programm, dazu gibt es
Porträts einzelner Filmemacher_innen. Der Londoner
Künstlerinnen-Filmverleih Lux hat beispielsweise Onyeka Igwes neueste
Auseinandersetzung mit dem britischen Kolonialfilmerbe, „A So-Called
Archive“, im Programm. Das Arsenal ruft in seiner Auswahl Harun Farocki in
Erinnerung und präsentiert die unlängst wiedergefundenen Probeaufnahmen zu
dessen Film „Etwas wird sichtbar“.
Als die Kurzfilmtage vor einem Jahr ihr Programm wie die meisten Festivals
ins Internet verlegten, wurde große Mühe darauf verwandt, wenigstens die
Gespräche ebenfalls online anzubieten. Dieses Jahr gibt es sogar einen
virtuellen Festival Space, der einen Anklang von Festivalleben aufkommen
lassen soll.
Nur die Fußgängerzone, in die die Festivalbesucher_innen sonst aus dem Kino
herausschwappen, das Eiscafé um die Ecke, die beeindruckende Tortenauswahl
einiger Cafés im Umfeld – all das fehlt weiterhin. Doch auch dieses Jahr
machen die Kurzfilmtage das Beste aus der Situation. Machen wir mit.
30 Apr 2021
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## AUTOREN
Fabian Tietke
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