# taz.de -- 68. Kurzfilmtage Oberhausen: Spaß an der Überfülle | |
> Die Kurzfilmtage hatten Porträts von Minderheiten im Programm. Zudem | |
> wagten sie einen kritischen Blick auf die eigene Geschichte. | |
Bild: Schrieb Filmgeschichte: „Zigeuner in Duisburg“ (1980) von Rainer Kome… | |
Zwei Jahre haben die [1][Kurzfilmtage Oberhausen online stattgefunden] und | |
sich damit erfolgreich eine erweiterte internationale Ausstrahlung | |
eingeworben. Dabei zeigte sich das Festivalteam um den künstlerischen | |
Leiter Lars Henrik Gass schon früh überzeugt, auch nach Lockerung der | |
Coronamaßnahmen zumindest einige Sektionen des Festivals weiter digital zu | |
präsentieren. | |
So gab es bei der diesjährigen 68. Ausgabe Anfang Mai zeitlich gestaffelt | |
zwei unterschiedliche deutsche und internationale Wettbewerbe – den ersten | |
online, den zweiten in den ehrwürdigen Sälen des Lichtburg-Kinos in der | |
Oberhausener Innenstadt. Dazu kamen (vor allem offline) Wettbewerbe für | |
Kinder und Jugendliche und Videoclips – und ein umfangreiches thematisch | |
ausgerichtetes Programm für diejenigen, die die kurze Form als Zugang zu | |
nichthegemonialen künstlerischen und gesellschaftlichen Diskursen sehen. | |
Einen gewichtigen Raum nahm der Mülheimer Dokumentarfilmer Rainer Komers | |
ein, dessen frühe, mehrheitlich auf das Ruhrgebiet fokussierte Arbeiten von | |
1967 bis 1981 in drei Programmen gezeigt wurden. Der 1944 geborene Künstler | |
und gelernte Siebdrucker hatte Ende der 1970er Jahre in Düsseldorf Kunst | |
studiert, sich aber eher der Arbeiterbewegung als dem Sektempfang nahe | |
gefühlt. | |
## Engagement für Deklassierte | |
So entstand etwa der im Kollektiv gemeinsam mit fünf anderen | |
Dokumentarist*innen (darunter [2][Klaus Wildenhahn]) entstandene | |
Direct-Cinema-Bericht aus einer eiskalten Streiknacht von Stahlarbeitern | |
Silvester 1978/79. „Tor 2“ artikulierte schon damals den Wunsch, den | |
Streikenden selbst die Kamera in die Hand zu geben. | |
Von Engagement für Deklassierte geprägt ist auch der ein Jahr später | |
entstandene „Zigeuner in Duisburg“, der die Vertreibung einer Sinti-Familie | |
von zweien ihrer Wohnplätze zeigt und auch die Verfolgungen der Nazizeit | |
miterzählt. Damit schrieb der Film (mit Peter Nestlers „Zigeuner sein“) | |
deutsche Filmgeschichte. Am Mittwoch eröffnete „Zigeuner in Duisburg“ in | |
Anwesenheit von Nachfahren der damals von Komers begleiteten Familie auch | |
das Festival. | |
Andere Programme widmeten sich etwa dem Konzeptkünstler Morgan Fisher und | |
Sylvia Schedelbauer, die mit „Oh, Butterfly!“ auch im deutschen | |
Präsenzwettbewerb vertreten war: eine Arbeit, die Puccinis exotisierende | |
Oper in sich vielschichtig überlagernden Bildzitaten, Text- und Soundebenen | |
einer kritischen Kommentierung unterzieht. | |
Ähnlich collagierend montiert, aber elegischer im Ton erzählt Alexandra | |
Gulea in „Flying Sheep“ von der (eigenen) Geschichte der balkanischen | |
Minorität der Aromunen und errang damit den Hauptpreis des formal und | |
thematisch breit aufgestellten Wettbewerbs. | |
## Familiäre Horrorerzeugung und Rückblick | |
Gleich zwei wichtige Auszeichnungen erhielt „Weathering Heights“ der | |
schwedischen Regisseurin Hannah Wiker Wikström: Eine eindringliche Übung in | |
wäldlich-familiärer Horrorerzeugung, die mir allerdings ähnlich verstiegen | |
ambitiös wie ihr Titel erschien. | |
Ein begrüßenswerter Trend vieler Kulturinstitutionen ist die Beschäftigung | |
mit der eigenen Geschichte nicht nur zu Jubiläumszwecken. Oberhausen | |
betreibt das seit 2018 auch in der Sektion „re-selected“, die das | |
festivaleigene Archiv auf frühere Auswahlentscheidungen befragt. | |
Dieses Jahr fiel der Blick auf das Jahr 1993, als das Festival in | |
„Konfrontation der Kulturen“ den Ansatz einer „Dekonstruktion westlicher | |
weißer Perspektiven“ unternahm, Schwarze Regiepositionen aus Deutschland | |
aber nicht einlud. | |
Dies wurde nun von Kuratorin Karina Griffith nachgeholt, die als Korrektur | |
zu drei damals gezeigten, weibliche Befindlichkeiten beschwörenden | |
anglophonen Filmen mit Raoul Pecks „Leugt“ (1983) und dem fünf Jahre spät… | |
entstandenen „A Lover & Killer of Colour“ von Wanjiru Kinyanjui zwei | |
kämpferische Arbeiten ehemaliger Studierender der Berliner DFFB vorstellte. | |
## Afrikanisches Kino | |
Hier schloss sich gut ein von Annett Busch und Marie-Hèlène Gutberlet | |
kuratiertes Themenprogramm an, das unter dem an ein Album von King Sunny | |
Adé angelehnten Titel „Synchronize!“ das afrikanische Kino unter dem Aspekt | |
des Netzwerks untersuchte und feierte. | |
Die Kuratorinnen schlugen einen Bogen vom 1969 gegründeten [3][Festival | |
Fespaco in Ouagadougou] über junge afrikanische Filmemacherinnen bis zu der | |
im Netz erfolgreichen autobiografisch geprägten Diaspora-Miniserie | |
„Polyglot“ der Berliner Filmemacherin Amelia Umuhire. | |
Selbstreflexive Wendung zur eigenen Festivalgeschichte war auch die | |
Veröffentlichung eines Materialbandes zu Hellmuth Costard, zu dessen | |
Präsentation durch Lars Henrik Gass gerade mal ein Dutzend Menschen | |
erschienen waren (Gass: „das Interesse so schütter wie eh und je …“). | |
Costard hatte 1968 Festivalgeschichte geschrieben, als sein Film „Besonders | |
Wertvoll“, in dem ein Penis aus Bestimmungen der Filmförderung zitiert, in | |
letzter Minute vom damaligen Leiter Hilmar Hoffmann zurückgezogen wurde. | |
Die spärliche Anwesenheit von Publikum zur Wiederaufführung bei der 68., | |
insgesamt sehr gut besuchten und lebendigen Festivalausgabe dürfte neben | |
der Figur Costard seinen Grund aber auch in der Überfülle des Programms | |
haben, das in nur vier ganzen Offline-Festivaltagen sieben Wettbewerbe, | |
sechs Personalprofile, drei Archive, dreizehn Verleihe und noch ein gutes | |
Dutzend anderer interessanter Themenprogramme vorstellte. | |
Das macht in seiner Unübersichtlichkeit Spaß wie eine prall gefüllte | |
Wundertüte, entwertet aber auch die einzelnen, mit viel Aufwand | |
recherchierten und realisierten Komponenten. | |
10 May 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Kurzfilmtage-Oberhausen-online/!5762996 | |
[2] /Nachruf-Klaus-Wildenhahn/!5527251 | |
[3] /Filmfestival-Fespaco-in-Burkina-Faso/!5805984 | |
## AUTOREN | |
Silvia Hallensleben | |
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