| # taz.de -- Doku „We Are All Detroit“ im Kino: Ruinen der Transformation | |
| > Der Dokumentarfilm „We Are All Detroit“ von Ulrike Franke und Michael | |
| > Loeken vergleicht Detroit und Bochum. Was kam nach der | |
| > Automobilindustrie? | |
| Bild: Auch wenn es im Bild anders erscheint, sind die meisten Protagonisten in … | |
| „Bis in die 80er konnte man bei jeder Fabrik in Detroit anfangen, ohne | |
| einen Realschulabschluss zu haben, und einen Job bekommen, für den ein | |
| Mittelschichtseinkommen gezahlt wurde.“ Der Kontrast zwischen dem, was der | |
| Guide, der die Besuchergruppe durch die Ruinen der ehemaligen Fabrik der | |
| Automarke Packard in Detroit führt, für die Vergangenheit beschreibt und | |
| dem verfallenden Gebäude der Gegenwart könnte nicht größer sein. Der | |
| [1][Weggang der Autoindustrie aus der ehemaligen „Motor City“ Detroit] hat | |
| seit den 1980er Jahren unzählige Ruinen in der Stadt hinterlassen. | |
| Die Packard-Fabrik, die 1958 geschlossen wurde, verfällt bis heute. Im | |
| Herbst 2020 scheiterte der neueste Versuch, das Gebäude zu sanieren und | |
| einen Blingbling-Arbeitswohnpark daraus zu machen. In Bochum hingegen | |
| folgte auf die Schließung des Opelwerks die Planung des | |
| „Innovationsquartiers MARK 51°7“: Die Dokumentarfilme_rinnen Ulrike | |
| Franke und Michael Loeken vergleichen in „We Are All Detroit“ die | |
| Transformation von Detroit und Bochum nach dem Wegfall der | |
| Automobilindustrie. | |
| „Das war ein großer, erfolgreicher Konzern. Es wurde nicht mal vernünftig | |
| abgerissen.“ Zusammen mit einem ehemaligen Ingenieur von Cadillac, der | |
| diese bedauernden Worte spricht, blickt die Kamera auf gammelnde | |
| Betonplatten. Statt sie zu entfernen, wurden sie mit einem Zaun umgeben, | |
| der vor sich hin rostet. | |
| Auf der Fahrt um das einstige Fabrikgelände mit sehr viel Nichts, in dem | |
| bloß noch ein Gebäude steht, erzählt der ehemalige Ingenieur von einer | |
| Mahagonitafel, die im Foyer des Hauptgebäudes des Werks hing. Jeder, der | |
| etwas für Cadillac erfunden hat, bekam eine Plakette an der Wand, mit | |
| Namen, Patentnummer und Datum. Der Vater des Ingenieurs hatte eine. Er | |
| wollte eine. Es kam nicht mehr dazu. Als das Patent ausgestellt wurde, war | |
| das Gebäude schon geschlossen. | |
| Als das Opelwerk abgerissen wird, steht eine Handvoll älterer Männer | |
| hinterm Zaun und knipst Erinnerungsbilder. Sie haben auch selbst Fotos von | |
| sich am Arbeitsplatz und von ihren Autos. Richtigerweise weiten Franke und | |
| Loeken den Blick über das eigentliche Werk hinaus. In einem Gespräch | |
| erzählt das Betreiberpaar einer Gaststätte, die direkt gegenüber dem | |
| Werkseingang lag, dass zur Mittagszeit bis zu 100 Liter Bier vorgezapft | |
| wurden und pünktlich zur Mittagspause an den Stammplätzen bereit standen. | |
| Heute ist dagegen Totentanz. Auch in einem Diner in Detroit, in dem | |
| jahrzehntelang Autoarbeiter_innen aßen, ist wenig los. Früher waren es zur | |
| Mittagszeit drei Kellnerinnen, jetzt ist es eine. In Bochum wie in Detroit | |
| ist der Blick auf die vielfach staatlich subventionierte Autoindustrie | |
| nicht frei von Nostalgie. | |
| ## Scheitern und Gelingen | |
| Diese Nostalgie bleibt in dem Film ungebrochen. Franke und Loeken halten | |
| die Erzähllinien ihres Films geradlinig: scheiternde Transformation im | |
| Großen in Detroit, halbwegs gelungene Transformation in Bochum. Das, was an | |
| Umgestaltung in Detroit funktioniert hat, verdankt sich individueller | |
| Initiative: Etwas urbane Landwirtschaft auf dem Stadtgebiet, eine | |
| hochpreisige Jeansmanufaktur, ein Start-up für eingelegte Gurken. Aus | |
| diesem vergleichenden Wechsel entsteht ein komplexes Bild zweier Städte, | |
| die mit dem Verlust ihrer industriellen Vergangenheit zurande kommen | |
| müssen. | |
| [2][Ulrike Franke und Michael Loeken arbeiten seit Ende der 1990er Jahre | |
| als Dokumentarfilmduo. Seit Mitte der 2000er Jahre kreisen die Filme der | |
| beiden um das Schwinden der Industrie im Ruhrgebiet und die Folgen]. Die | |
| meisten der Filme entstanden im Auftrag und als Koproduktion mit dem | |
| öffentlich-rechtlichen Fernsehen. | |
| Als der Film letztes Jahr auf der Duisburger Filmwoche lief, wurde er | |
| einerseits recht positiv aufgenommen, andererseits aber auch sehr deutlich | |
| kritisiert für die Abwesenheit nicht-weißer Perspektiven in der Geschichte | |
| von Opel in Bochum. Auch in Detroit bleiben die Erinnerungen zweier | |
| schwarzer, ehemaliger Autoarbeiter, die erzählen, sie seien aus dem Süden | |
| der USA nach Detroit gekommen, etwas in der Luft hängen. | |
| Die Protagonist_innen sind weiß. Das Protokoll der Debatte sieht den Film | |
| als Beispiel für die Notwendigkeit der „Entwicklung einer dokumentarischen | |
| Ethik vor dem Hintergrund zeitgenössischer identitätspolitischer Debatten“. | |
| Was diplomatisch formuliert ist. Dem komplexen, vielstimmigen Bild der | |
| Umgestaltung von Bochum und Detroit steht in „We Are All Detroit“ ein | |
| auffälliges Desinteresse an gesellschaftlichen Debatten und Konflikten rund | |
| um Fragen der Migration und des Feminismus gegenüber, die die Vergangenheit | |
| als Industriestandort ebenso prägten wie den Transformationsprozess der | |
| beiden Städte. | |
| Das ist bedauerlich, denn jenseits dieses blinden Flecks ist der Film von | |
| Franke und Loeken ein gelungener Versuch, unterschiedliche Umgangsweisen | |
| von Städten und Regionen mit dem Verlust von Industrie, die über | |
| Jahrzehnte prägend war, filmisch zu verdichten. | |
| 13 May 2022 | |
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| ## AUTOREN | |
| Fabian Tietke | |
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