# taz.de -- Grazer Filmfestival Diagonale: Gelassenheit, Abenteuer und Trümmer | |
> Die Rückkehr des Kinos nach der langen Hochzeit der Pandemie: Das | |
> Filmfestival Diagonale zeigte sein Programm in Graz wieder auf der | |
> Leinwand. | |
Bild: Ein Detroiter Autonarr in „Motorcity“ von Arthur Summereder | |
Man stolpert aus dem Foyer, auf wackligen Knien und mit einem breiten | |
Grinsen im Gesicht. Für Walter Benjamin verhieß der Kinobesuch, „gelassen | |
abenteuerliche Reisen“ zwischen den „weitverstreuten Trümmern“ unserer | |
modernen Alltagswelt zu unternehmen. Das trifft nach wie vor zu, trotz und | |
gerade wegen der jüngsten Krisen von Kino und kulturellem Leben. | |
Zwischen den Gefühlen von Abenteuerlust und Gelassenheit finden sich auch | |
Momente des Wegbrechens. Es ist kein Zufall, dass einige Filme, die auf dem | |
Grazer Filmfestival Diagonale liefen, von Orten und Figuren erzählen, die | |
einem historischen und gesellschaftlichen Prozess des Schwunds ausgesetzt | |
sind. Das Kino meldet sich zurück und erzählt zuerst einmal von Abschieden, | |
vom Verschwinden. | |
Arthur Summereders Dokumentation „Motorcity“ von 2021 begleitet | |
Autonärrin:en aus Detroit, die bei sogenannten drag races die Reifen | |
aufqualmen lassen. Die Protagonist:innen entstammen teils aus Familien, | |
die seit Generationen in Detroiter Autowerken arbeiteten. Alle verdienen | |
zum Leben zu wenig, aber gerade genug, um ihre Rennautos zu pflegen. Denn | |
dass die sich noch bewegen, wo sich sonst nicht mehr viel bewegen lässt, | |
ist von überlebenswichtiger Bedeutung für die Menschen aus Detroit. | |
## Der Einbruch der amerikanischen Autoindustrie | |
Die Viertel der Weißen und Schwarzen lösen sich erst seit den | |
Zweitausenderjahren langsam aus einer wirtschaftlich wie stadtplanerisch | |
zementierten Segregation. Der mit dem Einbruch der amerikanischen | |
Autoindustrie Anfang der Achtziger einhergehende urbane Niedergang Detroits | |
wirkt aber immer noch nach. Summereders Film registriert die verlassenen | |
Straßenzüge, die Gangstrukturen in manchen Gegenden. | |
Was geschieht, sobald die Automotoren laufen, gibt aber Hoffnung. Schwarze | |
und Weiße stehen einträchtig zusammen, inspizieren Autos, grillen, trinken. | |
Frauen wie Männer steigen hinter das Lenkrad. Dann folgen Großaufnahmen von | |
durchdrehenden Reifen, euphorischen Gesichtern und die amerikanischen Wagen | |
schießen über den Asphalt davon. | |
[1][Tizza Covis und Rainer Frimmels „Aufzeichnungen aus der Unterwelt“ von | |
2020] nimmt sich auf wunderschönem 16-mm-Material zweier Legenden aus dem | |
wilden Wien der Sechziger an, Kurt Girk und Alois Schmutzer. Der | |
mittlerweile verstorbene, stets fesch gekleidete Girk, auch als „Frank | |
Sinatra von Ottakring“ bekannt, machte von sich als tingelnder | |
Wienerlied-Sänger von sich Reden. Schmutzer, ein Hüne, galt als kräftigster | |
Mann Wiens, hatte ein Faible für das illegale Glücksspiel Stoß und war bei | |
den Wiener Behörden dementsprechend gehasst und gefürchtet. | |
## Viele Großaufnahmen und lange Einstellungen | |
Es gibt viele Großaufnahmen und lange Einstellungen, wenig Auflösung der | |
gefilmten Räume, eher ihre Desintegration. Dann sind es Gegenstände wie | |
eine Holzvertäfelung, Girks Zigarette im Aschenbecher, Schmutzers riesige | |
Hände, an die sich das Auge heftet, während die Männer ihre Anekdoten | |
erzählen, und aus deren Kargheit sich große weite Bilderwelten ausrollen. | |
Das sind nicht nur Bilder, die zur Schrift werden, wie Benjamin es nannte, | |
sondern auch Schriftzeichen, die sich in neue Bilder weiterverwandeln. | |
Auch Roger Fritz’ letzte Regiearbeit „Frankfurt Kaiserstraße“ von 1981 | |
erzählt von zerbrochenem und beschädigtem Leben, setzt beim bürgerlichen | |
Wohnzimmer an und pendelt dann zwischen Bahnhofsviertel und | |
Bundeswehrkaserne. Susanne, deren Freund Rolf Wehrdienst ableisten muss, | |
flieht vor der provinziellen Enge nach Frankfurt und kommt bei ihrem Onkel | |
Ossi unter, gespielt von Kurt Raab. | |
Der hat einen Blumenladen und tritt nachts in Dragshows auf. Das Wiener | |
Urgestein Hanno Pöschl spielt derweil Vienna-Jonny, einen handsome devil | |
mit psychotischer Gewaltneigung, Prostitutionsring und politischen | |
Beziehungen. | |
## Ein leicht sleazy Exploitationreigen | |
Was folgt, ist ein leicht sleazy Exploitationreigen, in dem Susanne dem | |
schrecklich-schönen Jonny zu verfallen droht; und doch ist der Film mehr | |
als das. Fritz wandert überraschend akribisch eine ganze Reihe an | |
soziologischen Kontexten ab, entlarvt die Doppelmoral des bürgerlichen | |
Mittelstands, erfasst den schwelenden Autoritarismus in Bundeswehrkreisen, | |
filmt junge migrantische Straßenstricher und schenkt dem schwulen Paar von | |
Kurt Raab und Gene Reed, in dieser Zeit nicht selbstverständlich, viel Raum | |
und Sympathie. | |
Ein Paradox des Kinos, seine Rückkehr fühlt sich in Momenten wie ein | |
Abschied an. Jedes Verschwinden und jeder Bruch des Kinos wird damit aber | |
zu jenen vielgestaltigen Reinkarnationen, die das Kino so liebt. Seine | |
Wirkung im Sinne Walter Benjamins hat es nicht verloren und kann es wohl | |
auch nicht: Nach dem Film verlässt man den Saal, noch halb vom Abenteuer | |
ergriffen und plötzlich ganz gelassen, mit wackligen Knien und einem | |
breiten Grinsen. | |
16 Jun 2021 | |
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## AUTOREN | |
Daniel Moersener | |
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