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# taz.de -- Filmfestival Diagonale in Graz: Käse vor die Glotze kleben
> Mumblecore über die Apokalypse und alte Brummifahrer-Home-Videos:
> Eindrücke vom österreichischen Filmfestival „Diagonale“ in Graz.
Bild: Rechtsoffener Fahnenschwinger in „Denn sie wissen, was sie tun“
Zwei Refugien sind es, die von der diesjährigen Diagonale in Graz in
Erinnerung bleiben werden. Eines von ihnen ist ein Souterrain. Hier wohnt
Peter Haindl, der sich gerade ein neues Fernsehgerät angeschafft hat, von
dessen Größe er schwärmt. Unter heutigen Gesichtspunkten erscheint der
Bildschirm zwar winzig, aber Haindls Aufnahmen sind teils an die 30 Jahre
alt – die Maßstäbe haben sich verändert.
Die Praxis, mit der der Wiener Lkw-Fahrer seine paar Quadratmeter ausmisst
– inklusive geschmackvoll empfundener Aktgemälde unterschiedlicher Epochen
und eines eigens ausgehobenen Gartenteichs mit grünlichem Wasser –, wirkt
indes erstaunlich modern: Lange Monologe im Selfie-Modus, in denen
Wutbürger Haindl schimpft und schimpft und manchmal auch ein bisschen ins
Schwärmen gerät.
Es ist die Hochphase von Home-Videos, und [1][Rainer Frimmel, dem die
Diagonale gemeinsam mit Kollegin Tizza Covi] ein Spezial ausgerichtet hat,
ist in Besitz der Tapes geraten, die Haindl zwischen 1993 und 2000
angefertigt hat. Ergebnis ist „Aufzeichnungen aus dem Tiefparterre“ (AT
1993–2000), ein Dokument ungehemmter Sprachgewalt voll Gemecker und
Selbstmitleid.
## Offenherziger Einblick
Ein offenherziger Einblick in das Innenleben eines tüchtigen Arbeiters, der
sich ähnlich tüchtig über jene erregt, von denen er zu wissen meint, dass
sie sich ein herrliches Leben auf seine Kosten bereiten. Sprich,
Migrantinnen und Migranten, die den lieben langen Tag nur aus dem Fenster
gucken. Möglicherweise spielt ein wenig Neid mit hinein, denn der Blick aus
Haindls Fenster wiederum gibt nicht viel preis von der Welt.
An die 20 Jahre später, wir befinden uns in einer Pandemie, funktioniert
die Vernetzung dank Internetanschluss auch in den abgelegensten Winkeln.
Etwa einem kellerähnlichen, lediglich von Laptoplichtern illuminiertem
Arbeitszimmer, an dem auch der [2][Regisseur Ulrich Seidl] seine Freude
gehabt hätte. Hier jedenfalls wirkt Alexander Ehrlich, Aktivist und
gläubiger Christ, und predigt seiner Zuhörerschaft das Einmaleins der
entzogenen Grundrechte.
Selbst Babyleichen schwimmen in seinen Ausführungen in Impfstoffen herum
und wenn Ehrlich ans Tageslicht tritt und besonders gut aufgelegt ist,
spielt er auch mal eine Hitler-Rede vor der KZ-Gedenkstätte Mauthausen ab.
## Schamaninnen und Neonazis
Er ist einer von drei Männern, die Regisseur Gerald Igor Hauzenberger in
seinem Dokumentarfilm „Denn sie wissen, was sie tun“ (AT 2022) mit der
Kamera begleitet hat. Zwei Stunden währt die Reise ins Zentrum einer
Protest(un)kultur, in der Regenbogenfahnen genauso zerrissen wie
hochgehalten werden, in der singende Schamaninnen gemeinsam mit beinharten
Neonazis marschieren und rhetorisch geschickte Typen wie Ehrlich das
Vaterunser am Megafon anstimmen.
Ein aufschlussreicher wie abstoßender Film, der sich, ähnlich
„Aufzeichnungen aus dem Tiefparterre“, im Anschluss den (berechtigen?)
Vorwurf gefallen lassen muss, Öffentlichkeit für Positionen zu schaffen,
die nicht nur Übelkeit erregend, sondern mitunter auch gefährlich sind.
Eine, die sich vermutlich weder mit Haindl noch mit Ehrlich abgeben wollen
würde, ist die avantgardistische Künstlerin Friederike Pezold. In ihrem
Film „Revolution der Augen“ (AT 2022) kündigt sie eine „Bild-Blick-Revol…
an und erzürnt sich über die „overdose of digital shit pictures“. Um zu
demonstrieren, wie man das tägliche Geflacker zu schneller, zu lauter, zu
dummer Bilder (die zu einer Art Klimakrise des Geistes führen würden)
torpedieren kann, klebt Pezold schlicht eine löchrige Käsescheibe vor den
Röhrenfernseher. Fertig ist ihr revolutionäres Programm.
## Verbitterte Abgehängte
Dass auch durch Petzolds eigentlich erfrischend befremdliche Arbeit die
Verbitterung der Abgehängten geistert, stimmt ein wenig traurig. Denn
mindestens in ihrem großartigen „Canale Grande“ (AT/DE 1983), ebenfalls auf
der Diagonale zu sehen, übersetzte sich ihr Unmut über die so bereitwillig
konsumierte mediale Bilderpest noch in Witz und Opulenz.
So sind dies nur drei Beispiele für filmische Zeugnisse innerer
Verhärtungen, die sich häufig als Überzeugungen tarnen, wo der Kontakt zur
Gegenwart und den Mitmenschen teilweise aufgegeben wurde und man sich
stattdessen für das Senden aus dem eigenen Parterre entschieden hat.
Berechtigt und hochinteressant bleibt dabei jeder dieser Filme.
Umso kontrastreicher wirkt dann die Begegnung mit Rosa Friedrichs „Wander“
(AT/DE/IE 2022), einem psychedelischen Mumblecore-Endzeitrausch, der vier
junge Menschen kurz vorm Untergang der Welt zeigt. Fluoreszierende Fische
fliegen da vom Himmel und Haare fallen aus, doch statt Panik herrscht
Spielwut. Angesichts des jähen Endes tut man endlich das, was die meiste
Zeit unmöglich scheint: Man stellt einfach mal die Ängste ein.
11 Apr 2022
## LINKS
[1] /Grazer-Filmfestival-Diagonale/!5775111
[2] /Rimini-im-Wettbewerb-der-Berlinale/!5831143
## AUTOREN
Carolin Weidner
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