# taz.de -- „Rimini“ im Wettbewerb der Berlinale: Amore Mio | |
> Der Regisseur Ulrich Seidl reist in seinem jüngsten Film an die Adria. | |
> „Rimini“ begleitet einen abgehalfterten Schlagerstar. | |
Bild: Wenn er erst „Amore Mio“ singt: Michael Thomas in „Rimini“ | |
„Noch nie habe ich im Kino so geradewegs in die Hölle geschaut“, soll | |
Werner Herzog gesagt haben, nachdem er Ulrich Seidls „Tierische Liebe“ | |
(1995) sah. Wer sich an besagten Dokumentarfilm erinnert, wird sich in | |
Herzogs Worten wiederfinden. Menschen, die [1][Tiere (zu sehr) lieben,] | |
Keller voll mit Nazidevotionalien oder Sexurlaub in Afrika: Dem | |
Österreicher ist für seine Filme kein menschlicher Abgrund zu tief. | |
Für sein neuestes Werk wählt Seidl, wie zuvor bei „Hundstage“ (2000) und | |
seiner [2][„Paradies“-Trilogie (2012–2013)], das Format Spielfilm, wobei | |
Seidl die Grenzen zwischen Realem und Inszeniertem gern verwischt. So | |
erinnern Sequenzen in „Rimini“ optisch an eine Doku – eine über | |
Feriendomizile außerhalb der Saison. Der Adriaküstenort, den Seidl | |
präsentiert, ist maximal trostlos: leere Strände, Wind wie an der | |
Nordseeküste und leere Hotels, deren Glanzzeit um die fünfzig Jahre | |
zurückliegt. | |
Ähnlich ist es bei Richie Bravo, Seidls Protagonist: Der ehemalige | |
Schlagerstar ist sichtlich abgehalftert und hält sich mit | |
Gelegenheitsauftritten über Wasser. Die Etablissements, in denen er seine | |
einstigen Hits zum Besten gibt, tragen Namen wie „007 Dancing“ und gleichen | |
einem Albtraum aus verchromtem Gold und Neonlichtern. Seine überwiegend | |
weiblichen Fans sind wie er in die Jahre gekommen, blühen aber sichtlich | |
auf, wenn Bravo Songs wie „Amore Mio“ anstimmt. | |
Da die Auftritte nicht genug einbringen, lässt sich Richie Bravo – sich | |
selbst stets bei vollem Namen nennend – von einigen seiner treuesten | |
Anhängerinnen für Liebesdienste bezahlen. Dabei bleibt er Kavalier der | |
alten Schule, wirft mit Komplimenten und Liebesbeschwörungen um sich – ein | |
Macho ist er, aber ein lieber. | |
Michael Thomas, der bereits 2007 in „Import Export“ für Seidl vor der | |
Kamera stand, spielt diesen bärenhaften, doch recht einsamen | |
Schnulzensänger so überzeugend, dass man sich, wie oft bei Seidl, an der | |
Grenze zwischen Realität und Schauspiel wähnt. Zwar kratzen die Bravo | |
zugeschriebenen Attribute – Alkoholiker ist er, Raucher natürlich und | |
spielsüchtig – arg am Klischee, das macht die Figur aber nicht weniger | |
einnehmend. | |
## Schadensersatz für verpfuschtes Leben | |
Man fühlt mit Bravo mit, verzeiht ihm sogar eine Erpressung und dass er den | |
eigenen Vater (gespielt von Hans-Michael Rehberg) zu bestehlen versucht. | |
Dieser sitzt in Österreich im Heim. Alzheimergeplagt existiert die | |
Vergangenheit für ihn nur noch in Fetzen, blitzt in Hans-Baumann-Liedzeilen | |
und anderen NS-Reminiszenzen auf. Auch einen Bruder gibt es; Ewald (Georg | |
Friedrich) tritt allerdings nur anfangs zur Beerdigung der gemeinsamen | |
Mutter auf. [3][Wie das Magazin Variety berichtet], soll Ewalds Geschichte | |
wie auch die des Vaters an anderer Stelle weitererzählt werden. | |
Möglicherweise klärt Seidl dann auch die Hintergründe um die etwas ominöse | |
Beziehung zwischen Bravo und seiner Tochter (Tessa Göttlicher). Diese | |
taucht in „Rimini“ plötzlich mit Freund und dessen Großfamilie auf und | |
will, was ihr zusteht: Schadensersatz für ihr verpfuschtes Leben. Es ist | |
leider der schwächste Strang des Films, wirkt er doch arg improvisiert. Um | |
wirklich zu berühren, hätte sich Seidl hier vielleicht ausnahmsweise mal | |
für ein Genre entscheiden müssen. | |
12 Feb 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Jagdfilm-von-Ulrich-Seidl/!5360625 | |
[2] /Ulrich-Seidls-Film-Paradies-Hoffnung/!5067352 | |
[3] https://variety.com/2022/film/global/berlin-ulrich-seidl-rimini-1235177015/ | |
## AUTOREN | |
Sophia Zessnik | |
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