# taz.de -- „Europe“ auf der Berlinale: Erzwungene Fiktion | |
> „Europe“ ist der erste Spielfilm des Dokumentarfilmers Philip Scheffner. | |
> Er folgt dem Schicksal einer nach Frankreich migrierten Algerierin. | |
Bild: Rhim Ibrir als Zohra Hamadi | |
Zu Beginn zwei Röntgenbilder einer deformierten, von Stahlklammern | |
gehaltenen Wirbelsäule. Dann schaut die Kamera aus dem Obergeschoss durch | |
die gläserne Fassade hinaus auf den Vorplatz eines modernen Krankenhauses. | |
Aus dem Off sind Regieanweisungen zu hören („den Bus losfahren …“). Und … | |
Dialog – vermutlich zwischen dem Filmemacher und seiner Hauptdarstellerin – | |
über ihr Verhältnis zu ihrer Rolle. | |
Währenddessen sehen wir unten eine junge Frau aus dem mittlerweile | |
angekommenen Bus steigen und zum Eingang laufen. Als dieser losfährt, tritt | |
sie oben frontal vor der Kamera aus dem Lift und geht nach links aus dem | |
Bild. | |
Im folgenden Gespräch mit ihrem Arzt zeigt Zohra Hamadi Humor und | |
Selbstbewusstsein. Sie bekommt die gute Nachricht, dass sie keine weiteren | |
Operationen benötige und ein Aquatraining zur Reha machen solle. Als ihr | |
auf dem Heimweg im Bus der Fahrer eine „Kämpfernatur“ attestiert, lächelt | |
sie stolz. | |
Später erzählt sie ihren aus Algerien nach Frankreich eingewanderten | |
Verwandten von ihrem Erfolg sowie dem Ehemann – per Telefon, denn er ist | |
noch in der alten Heimat, soll aber nach der erwarteten Verlängerung von | |
Zohras Aufenthaltsgenehmigung nachkommen. Doch statt dieser kommt die | |
Aufforderung zur Ausreise, da es nach der gesundheitlichen Besserung keinen | |
Grund mehr für den Aufenthalt in Frankreich gebe. | |
## „Europe“ ist Titel des Films und einer Bushaltestelle | |
„Europe“ heißt die Bushaltestelle, an der Zohra aussteigt. Das ist | |
dokumentarisches Finderglück, auch wenn „Europe“ eigentlich [1][der erste | |
Spielfilm von Philip Scheffner] ist. Denn die Station „Europe“ gibt es auf | |
der Buslinie vom „Hôpital“ zum „Forêt“ im südwestfranzösischen | |
Châtellerault wirklich. | |
Und auch sonst gründet der Film auf dokumentarischer Recherche – und kann | |
als Spin-off von [2][Scheffners „Havarie“] verstanden werden, in dem | |
autobiografische Berichte der jungen, nach Frankreich migrierten Algerierin | |
Rhim Ibrir ein Bestandteil des aus dem Off erzählten Tongewebes waren. | |
Dem Team um Scheffner und Autorin Merle Kröger war die starke Präsenz von | |
Ibrir vor der Kamera beim Dreh in Erinnerung geblieben. Auch deswegen | |
rückte die junge Frau ins Zentrum ihres nächsten Projekts. Doch ein | |
„klassisch dokumentarisches Vorgehen“ hätte die Situation der Heldin in der | |
durch die Ausweisung erzwungenen Illegalität nur verschleiert, meint | |
Scheffner im Interview und spricht von „staatlich erzwungener | |
Fiktionalisierung“ in ihrem Leben und folgerichtig auch im Film. | |
Aus Rhim Ibrir wurde also die von ihr gespielte Figur Zohra. Und aus den | |
begleitend dokumentierten Beschwernissen eines illegalen Lebens eine | |
Erzählung, die die Kamera von Volker Sattler mit langen unbewegten | |
Einstellungen, raffinierter Lichtsetzung und tiefengestaffelten Rahmungen | |
kunstvoll in Szene setzt. | |
Dabei wird der Film zunehmend durch narrative Leerstellen und Irritationen | |
im Realitätsstatus des Gezeigten verunsichert. So verschwindet Zohra erst | |
zeitweilig ganz aus Bild und Ton und kehrt dann als Wachwunschträumerin | |
zurück. Das so konstruierte asymmetrische Triptychon gibt dem Publikum | |
guten Anlass für Austausch und nachgängige Gedankenspiele, würde vielleicht | |
aber besser als Installation denn im Kino funktionieren. | |
14 Feb 2022 | |
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## AUTOREN | |
Silvia Hallensleben | |
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