| # taz.de -- Coming-of-Age-Filme auf der Berlinale: Die imaginäre Kameradin | |
| > Drei ungleiche Schulfreundinnen bringt „Tytöt tytöt tytöt“ zusammen. D… | |
| > Doku „Alis“ aus Kolumbien schildert ein Projekt, das Jugendlichen hilft. | |
| Bild: Szene aus „Alis“ von Clare Weiskopf und Nicolás van Hemelryck | |
| Coming-of-Age-Stoffe werden häufig unterschätzt. Dabei kann sich hinter der | |
| Genrebezeichnung viel Potenzial verbergen. So bieten Bücher, Filme oder | |
| Serien dieses Typus Identifikationsmöglichkeiten und prägen den | |
| popkulturellen Zeitgeist für die aktuell heranwachsende Generation. | |
| Bekannte filmische Beispiele wären „Breakfast Club“ (1985), „Clueless“ | |
| (1995) und „American Pie I & II“ (1999, 2001). „Tytöt tytöt tytöt“ (… | |
| Picture) könnte sich da gut einreihen. Der Spielfilm der finnischen | |
| Regisseurin Alli Haapasalo erhielt den Publikumspreis beim diesjährigen | |
| Sundance-Filmfestival und läuft bei der Berlinale nun in der [1][Sektion | |
| Generation 14plus.] | |
| „Tytöt“ bedeutet Mädchen, und um drei von ihnen geht es, wobei sich über | |
| eine genaue Definition streiten ließe. Die Protagonistinnen in Haapasalos | |
| Film stehen nämlich ziemlich genau an der Grenze der Pubertät zum | |
| Erwachsenenalter, der sogenannten Adoleszenz oder eben dem Coming of Age. | |
| Mimmi (Aamu Milonoff) und Rönkkö (Eleonoora Kauhanen) sind beste | |
| Freundinnen, gehen gemeinsam zur Schule und arbeiten im gleichen | |
| Smoothieladen. Während Mimmi von ihrer Mutter vernachlässigt wird und | |
| infolgedessen durch aggressives Verhalten auffällt, sorgt Rönkkö sich um | |
| ihre Fähigkeit zu begehren. Zwar weiß Letztere, wie sie die Aufmerksamkeit | |
| des anderen Geschlechts auf sich lenkt, nicht aber, wie aus einer | |
| platonischen eine intime Verbindung wird. | |
| Hier offenbart die Dramedy das eingangs erwähnte Identifikationspotenzial, | |
| denn Rönkkö ist mit ihren Schwierigkeiten sicher nicht allein: | |
| Selbstdarstellung und sexuelle Performance werden heute überwiegend durch | |
| Medien erlernt; echte Intimität aufzubauen aber nicht. Dass es dazu | |
| vielleicht Zeit und Geduld braucht, man aber vor allem ehrlich mit seinen | |
| Gefühlen (oder dem Ausbleiben dieser) umgehen sollte, muss Rönkkö erst | |
| lernen. | |
| ## Großer Vertrauensbruch | |
| Auch Mimmi hadert mit dem Zwischenmenschlichen, allerdings aus | |
| Verlustangst, hat sie doch ihre Mutter an ein Leben mit neuem Mann und Kind | |
| verloren. Ihre anfangs durch Leichtigkeit geprägte Beziehung zu Emma | |
| (Linnea Leino) sabotiert sie deshalb schnell: Als Emma Mimmi ihre Liebe | |
| gesteht, knutscht diese vor ihren Augen mit einem Mann. Für Emma, die mit | |
| ihrer nervenzehrenden [2][Karriere als Eiskunstläuferin] hadert und der | |
| Mimmis Unangepasstheit etwas jugendlichen Leichtsinn zurückgebracht hat, | |
| ist der Vertrauensbruch groß. | |
| Das Thema Adoleszenz greift auch der kolumbianische Dokumentarfilm „Alis“ | |
| auf, der in derselben Sektion wie die finnische Dramedy läuft. Zumindest | |
| sind die darin vorkommenden Mädchen* (*ob sich alle als solche definieren, | |
| wird nicht ganz klar) ähnlichen Alters wie Mimmi, Rönkkö und Emma. | |
| Fünf Jahre lang begleiteten die beiden FilmemacherInnen Clare Weiskopf und | |
| Nicolás van Hemelryck SchülerInnen von La Arcadia, einer | |
| Bildungseinrichtung in Bogotá für Kinder und Jugendliche, deren Familien | |
| nicht in der Lage sind, sich um sie zu kümmern. Entstanden ist „Alis“, der | |
| für den Berlinale-Dokumentarfilmpreis nominiert ist, aus Workshops mit 20 | |
| Mädchen*. | |
| ## Wünsche und Hoffnungen | |
| „Alis“ bezieht sich auf den Namen eines fiktionalen Charakters, eine | |
| imaginäre Schulkameradin, die sich die 20 Partizipierenden erdenken und | |
| nach ihrem eigenen Ermessen erschaffen sollen. In einer Art | |
| Interviewsituation teilen sie, zunächst noch schüchtern, dann immer | |
| enthusiastischer ihre Vorstellungen von Alis: wie sie aussieht, was sie | |
| trägt, was ihre Wünsche und Hoffnungen sind, aber auch, warum sie an diesen | |
| Ort gekommen ist. Was dabei den eigenen Biografien entspringt, lässt sich | |
| höchstens erahnen. „Alis“ ist erkennbar eine von ihnen und vereint | |
| gleichzeitig sie alle. | |
| Erschreckend und bedrückend sind die Anekdoten zuweilen, geht es in ihnen | |
| allen doch um Gewalt oder Missbrauch, mindestens aber tief sitzenden | |
| seelischen Schmerz. Das Erlebte verarbeiten und überwinden, – dafür bietet | |
| La Arcadia professionelle Betreuung an. Heilen und wachsen lässt die | |
| Mädchen* auch der Zusammenhalt untereinander. Über Musik, insbesondere | |
| Reggaeton, kommen sie immer wieder zusammen; tanzen, lachen und singen | |
| gemeinsam. | |
| 11 Feb 2022 | |
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| ## AUTOREN | |
| Sophia Zessnik | |
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