| # taz.de -- Graphic Novel über Abtreibung: Selbstbestimmt und ohne Reue | |
| > In Julia Zejns zweitem Comic ist die Protagonistin ungewollt schwanger. | |
| > Die Entscheidung, die sie deshalb trifft, kommt ohne Drama und Trauma | |
| > aus. | |
| Bild: Der Test zeigt ein eindeutiges Ergebnis: Anja ist schwanger | |
| „Oh Fuck“, denkt Anja und blinzelt zwischen den Fingern ihrer linken Hand | |
| durch. Über dem ersten roten Strich hat sich ein zweiter gebildet: | |
| schwanger. Geplant war das nicht, das weiß man auch, ohne über die vierte | |
| Seite hinauszublättern, so eindrücklich transportiert Julia Zejn schon auf | |
| den ersten Panels ihrer Graphic Novel die Gefühle der Protagonistin. | |
| Dabei spräche objektiv eigentlich nichts gegen ein Kind: Anja ist fast 30, | |
| in einer festen Beziehung und hat einen sicheren Job. Auch kann sie sich | |
| generell vorstellen, einmal eine Familie zu gründen. Und doch bleibt die | |
| Freude aus und wird sich auch nicht mehr einstellen, weshalb Anja im Laufe | |
| der Geschichte von „Andere Umstände“ die Schwangerschaft abbrechen wird. | |
| Bei der Comic-Vorstellung in Berlin erzählt Illustratorin Julia Zejn, ihr | |
| sei es wichtig gewesen zu zeigen, dass ein Schwangerschaftsabbruch nicht | |
| zwingend ein tragisches Erlebnis sein muss. | |
| Wenn wie in Anjas Fall keine medizinische Indikation, keine Vergewaltigung | |
| und auch keine widrigen Lebensumstände vorherrschten, sei eine Abtreibung | |
| auch nur eine Entscheidung. Eine, die sich die meisten Schwangeren gut | |
| überlegten zwar, die aber nicht, wie oft gesellschaftlich suggeriert, immer | |
| mit einem Trauma einherginge. | |
| ## Haus- und Care-Arbeit bleiben an Anja hängen | |
| Um Anjas Entscheidung gegen ein Kind nachvollziehbar zu machen, erzählt | |
| Zejn deren Geschichte und setzt hierfür zwei Jahre vorher an. Da lernt | |
| Anja, die gerade ihren Master in Soziologie bestanden hat, Olli kennen. | |
| Olli ist ein mäßig erfolgreicher DJ, feiert und kifft viel und lebt so in | |
| den Tag hinein, etwas, das Anja völlig fremd ist, sie aber fasziniert. | |
| Zumindest solange die erste Verliebtheitsphase anhält. | |
| Sehr viel mehr scheint Olli nämlich mit seinem Leben nicht anfangen zu | |
| wollen, was in Ordnung wäre, wäre er nicht kolossal unselbstständig. | |
| Nachdem die beiden zusammenziehen, bleiben Haus- und Care-Arbeit an Anja | |
| hängen. Nicht einmal um seinen schmerzenden Zahn vermag sich Olli | |
| eigenständig zu kümmern, geschweige denn um die Ameisen im Formicarium, die | |
| Anja ihm geschenkt hat. | |
| Unaufgeregt führt Zejn durch die Beziehung der beiden – illustriert sie mit | |
| sanften Buntstiftstrichen. So simpel der Stil auf den ersten Blick wirkt, | |
| so eindrücklich vermag er die Gefühle und Gedanken der | |
| Protagonist*innen darzustellen. Oft verändern sich nur die Augenbrauen, | |
| verziehen sich die Münder zu Strichen, und trotzdem wird deutlich, was den | |
| jeweiligen Charakter gerade bewegt. | |
| Ein steter Farbwechsel drückt zudem aus, an welchem Punkt der Beziehung | |
| sich Anja und Olli gerade befinden: vom kräftigen Rot der | |
| leidenschaftlichen Anfangszeit über Grün, als die Beziehung wächst, bis hin | |
| zu gräulich-schwarz, wenn Anja – nun schwanger – anfängt, diese zu | |
| hinterfragen. | |
| ## Das Thema Schwangerschaftsabbruch ist aktuell wie nie | |
| Schon in ihrem Comic-Debüt „Drei Wege“ (2018 auch im Avant-Verlag | |
| erschienen) setzte die Leipziger Illustratorin auf ein eindrückliches | |
| Farbkonzept. Gelb, Rot und Grün dienten dazu, die verschiedenen | |
| Lebensrealitäten dreier Frauen in den Jahren 1918, 1968 und 2018 | |
| voneinander abzugrenzen. Ganz so streng verfährt Zejn in „Andere Umstände“ | |
| nicht, und doch ist ein Muster erkennbar. | |
| Thematisch ist die Graphic Novel aktueller denn je: Im US-Bundesstaat Texas | |
| trat ein neues Gesetz in Kraft, das Schwangerschaftsabbrüche nach der | |
| sechsten Woche fast komplett verbietet, in Chile wurde gerade gegen eine | |
| Legalisierung von Abtreibungen gestimmt und in Polen sollen | |
| Schwangerschaften und etwaige Fehlgeburten künftig in einem Zentralregister | |
| gelistet werden. All das wirft kein gutes Licht auf die Entwicklung des | |
| Rechts auf körperliche Selbstbestimmung. | |
| Hierzulande dürfen wir uns zwar freuen, dass die neue Regierung den | |
| Paragrafen 219 a abschaffen möchte, der Werbung für Schwangerschaftsabbruch | |
| unter Strafe stellt. Der Paragraf 218, der den Abbruch als solchen | |
| kriminalisiert, existiert aber erst mal weiterhin. „Wenn etwas als Straftat | |
| gilt, muss man sich schuldig fühlen“, sagt Zejn im Interview mit der FAZ | |
| und bezieht sich damit auf ein Gefühl, mit dem man als gebärfähige Person | |
| häufig aufwächst. | |
| ## Gewöhnliche Alltagsgeschichte | |
| Dass dies nicht der Wahrheit entsprechen muss, es sich mit der | |
| Entscheidung, sofern freiwillig getroffen, ganz gut leben lässt, davon | |
| überzeugte sie sich bei der Recherche zu ihrem Comic. Ungefähr 20 Frauen | |
| befragte sie zu deren persönlichen Erfahrungen mit dem Thema. Außer einer | |
| einzigen bereute keine die Entscheidung. | |
| „Ich wollte eine ganz gewöhnliche Alltagsgeschichte erzählen“, sagt Zejn … | |
| Berlin. Das ist ihr gelungen. So lässt sich Ollis Euphorie, mit der er die | |
| Nachricht der Schwangerschaft aufnimmt und die ihn daran glauben lässt, | |
| sich ab jetzt verantwortungsvoll zu verhalten, ebenso nachvollziehen wie | |
| Anjas Bauchgefühl, das ihr sagt, dass dem nicht so sein wird. Am Ende | |
| bleibt es ihre Entscheidung, und die trifft sie selbstbestimmt und ohne | |
| Reue. | |
| 23 Jan 2022 | |
| ## AUTOREN | |
| Sophia Zessnik | |
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