| # taz.de -- Berlin-Comic von Maki Shimizu: Was aus Snoopy wurde | |
| > Den Stoff für ihre Comics findet Shimizu auf der Straße. In ihrem | |
| > neuesten geht es um das Leben, Überleben und den Tod in ihrer Wahlheimat | |
| > Berlin. | |
| Bild: Maki Shimizu arbeitet als Comic-Autorin, Illustratorin und Heilmasseurin … | |
| „Kunst ist eine Lüge, die uns die Wahrheit erkennen lässt.“ Dieses Zitat | |
| des spanischen Malers Pablo Picasso entfachte in Maki Shimizu den Wunsch, | |
| Künstlerin zu werden. So beschreibt die gebürtige Japanerin auf ihrer | |
| Webseite ihre persönliche Reise in die Welt der bildenden Kunst. | |
| Als Zeichnerin und Illustratorin hat sie sich mittlerweile einen Namen | |
| gemacht, ihre unlängst im Jaja Verlag erschienene Graphic Novel ist mit 400 | |
| Seiten ihr bisher umfangreichstes Werk. In ihm verpackt Shimizu die oft | |
| (g)raue Wahrheit des Großstadtlebens in berührende Autofiktion. | |
| „Über Leben“ ist Krimi und Sozialstudie in einem: Themen wie Tod, Gewalt | |
| und Missbrauch spielen hier ebenso eine Rolle wie Gentrifizierung und | |
| Obdachlosigkeit, aber auch Freundschaft und Zusammenhalt bestimmen die | |
| Geschichte rund um Maki Maus und Kater Adagio. | |
| Sie beide sind Shimizus Alter Egos: die eine aufgekratzt, wuselig, mal | |
| launisch, gar depressiv – der andere ruhig und besonnen, mit | |
| magisch-heilenden Pfoten. Mit anderen teilen sich die beiden ein Atelier, | |
| indem sie wie ihre Schöpferin an Illustrationen arbeiten. | |
| ## Berlin ist ein hartes Pflaster | |
| (Tat-)Ort der Geschichte ist Berlin, denn hierher hat es Shimizu vor 15 | |
| Jahren verschlagen. „Es ist ein hartes Pflaster“, sagt sie bei einem | |
| Treffen in Neukölln. Hier, in der Weichselstraße, in einer | |
| Gemeinschaftspraxis, arbeitet Shimizu als Entspannungsmasseurin, wenn sie | |
| nicht gerade zeichnet. | |
| Das hat die 40-Jährige mit dem Kater Adagio gemein, der bereits in früheren | |
| Veröffentlichungen die Hauptrolle spielte. Berlin habe auf sie einen | |
| Sogeffekt. Jedes Mal, wenn sie drauf und dran sei, weiterzuziehen, komme | |
| ein neues Angebot für eine Ausstellung, einen Workshop oder wie erst jüngst | |
| das Berliner Comicstipendium, mit dem sie ihre Graphic Novel verwirklichen | |
| konnte. Trotz aller Widrigkeiten, die sie mit der Stadt verbinde, sei sie | |
| dankbar für deren Realität; „sie inspiriert mich“. | |
| Viele dieser Widrigkeiten, die Shimizu in „Über Leben“ thematisiert, | |
| gehören zum heutigen Alltagsleben in einer Großstadt wie Berlin leider | |
| dazu. So werden Maki Maus und Kater Adagio aus ihrem einstigen | |
| Co-Workingspace verdrängt, weil die Vermieter*innen die Miete um 300 | |
| Prozent anheben. Eine Erfahrung, die Shimizu und viele ihrer | |
| Künstlerkolleg*innen bereits gemacht haben und die sie wie alles im | |
| Buch leicht überspitzt darstellt. | |
| „Ich wollte zeigen, dass Gentrifizierung schon im Kleinen beginnt“, sagt | |
| Shimizu über den Dampf zweier Teetassen hinweg. So sind es in ihrer Graphic | |
| Novel nicht nur die großen gesichtslosen Immobilienunternehmen, sondern | |
| auch Privatbesitzer*innen, die den sozioökonomischen Strukturwandel | |
| mitprägen. | |
| ## Von „Tokios Speckgürtel“ nach Deutschland | |
| 1981 in „Tokios Speckgürtel“ geboren, studierte Shimizu zunächst Freie | |
| Kunst mit einem Schwerpunkt auf Drucktechnik in Japan. Ein Deutschkurs an | |
| der Universität von Tsukuba weckte ihr Interesse an Deutschland und der | |
| deutschen Sprache, weshalb sie 2001 nach Frankfurt reiste. | |
| Von dort aus tingelte sie durchs Umland, übernachtete in Jugendherbergen | |
| oder mangels Geld auch mal unter Brücken und auf Parkbänken – eine | |
| Erfahrung, die in ihren Comic mit einfließt. 2003 verschlägt es sie nach | |
| Bielefeld, wo sie Grafikdesign studiert – und von dort aus irgendwann nach | |
| Berlin, wo es eine kleine, aber absolut feine Comicszene gibt. | |
| [1][Neben dem Comiczeichner Mikaël Ross] lernt Shimizu dort den Lektor | |
| Jean-Baptiste Coursaud kennen. „Wir konnten über alles Mögliche sprechen. | |
| Musik, Kochen, Wein, aber auch über ernste Themen, die mich beschäftigten“, | |
| sagt sie. Die Gespräche hätten für sie einen beinah psychotherapeutischen | |
| Effekt gehabt und legten quasi den Grundstein für „Über Leben“. Über das | |
| Leben, Überleben und den Tod schreiben und zeichnen, das sei ihr | |
| Hauptanliegen bei diesem Projekt gewesen. | |
| „Auf der Straße sieht man die Geschichten, die nicht geschrieben wurden“, | |
| heißt eine der Kapitelüberschriften, die wie eine Parabel auf das ganze | |
| Buch wirkt. Denn um ein Stimmungsbild der Stadt einzufangen, geht Shimizu | |
| eben dorthin, wo dieses am besten zu spüren ist: auf die Straße. Bewaffnet | |
| mit ihrem Bleistift fängt sie so auch jene ein, die die Straßen | |
| wortwörtlich bewohnen und dennoch selten Beachtung finden. | |
| ## Was ist aus den Comic-Held*innen der Kindheit geworden? | |
| Snoopy ist einer von ihnen, obdachlos und gezeichnet von einem Leben am | |
| Rande der Gesellschaft. Die Idee für den Charakter kam Shimizu, als sie | |
| einen Obdachlosen am U-Bahnhof Hermannplatz zeichnete: „Der Mann hatte | |
| einen großen Kopf und eine große Nase, deshalb habe ich ihn Snoopy | |
| getauft.“ | |
| Was sich daraus entwickelt hat, ist eine neue Version des bekannten | |
| Comic-Hunds geworden. „Ich habe angefangen mich zu fragen, was aus meinen | |
| Kindheitsheld*innen geworden ist“, sagt sie, „hatten sie auch Burn-outs | |
| oder sind an etwas gescheitert?“ | |
| Wer aufmerksam schaut, dem begegnen diese Charaktere immer wieder, wenn | |
| auch in neu interpretierter Form: die Neuköllner Bürgermeisterin Barbalulu, | |
| die aussieht wie eine Tochter des rosaroten Formwandlers, eine Punkerin mit | |
| gleicher Frisur und verschmitztem Lächeln wie Mumins Kleine My sowie die | |
| Trunkenbolde Jolek und Polek. | |
| Shimizus Zeichnungen erinnern zeitweise an den großen „Milljöh“-Chronisten | |
| Heinrich Zille, den es auch auf die Straße zog und dessen Zeichnungen heute | |
| noch die Fassade so manch Altberliner Kneipe zieren. | |
| ## Sexueller Missbrauch, Gewalt und Depressionen | |
| Gleichzeitig lässt sich die heimatliche Inspiration nicht leugnen: „Für | |
| dieses Projekt habe ich [2][wieder angefangen, Mangas zu lesen]“, sagt | |
| Shimizu. Den Bezug dazu sieht man ihren Figuren an; leicht überzeichnet, | |
| beinah kindlich muten diese an. Das wirkt wie ein krasser Gegensatz zu den | |
| schweren Themen, mit denen Shimizu teilweise eigene Erfahrungen und | |
| Traumata aufarbeitet. | |
| Sexueller Missbrauch, Gewalt auch gegen Kinder und Depressionen, dazu die | |
| bereits erwähnten Tücken der großstädtischen Entwicklungen – all das wirkt | |
| ziemlich überwältigend. Shimizu schaffe es, dieses Grauen durch Reduktion | |
| zu transportieren und so erträglich zu machen, sagt Lara Keilbart bei | |
| Deutschlandfunk Kultur und ehrt Shimizu, indem sie eine Parallele zu | |
| Pulitzerpreisträger Art Spiegelman zieht, der die Schreckensgeschichte | |
| eines Holocaustüberlebenden in Comicform verarbeitete. | |
| Um ihrer Geschichte Rhythmus zu verleihen, greift Shimizu zu | |
| lautmalerischen Elementen. Und es funktioniert: Trotz Dicke des Buchs und | |
| Schwere der Themen gleitet man flüssig durch die Geschichte, als würde man | |
| einer Melodie folgen. Zudem bleibt es stets spannend, was auch am | |
| Grundgerüst – dem Kriminalfall – liegt. Eine*r der Charaktere stirbt, und | |
| die Aufklärung dessen, was passiert ist, erwartet man gespannt. | |
| ## „Es riecht nach Berlin“ | |
| Der Blick zurück – stilistisch gesehen, aber auch auf die Traumata der | |
| eigenen Kindheit – sei ein wichtiger Prozess für ihr Buch gewesen, sagt | |
| Shimizu. Deshalb spiele der verstorbene Charakter auch nach seinem Tod noch | |
| eine wesentliche Rolle, weil Geister in Japan „ganz normal und Teil des | |
| alltäglichen Lebens“ seien. | |
| Als Shimizu nach Deutschland kam, sei sie erleichtert gewesen, dass Geister | |
| hier keine Rolle zu spielen scheinen. „Bis ich angefangen habe, | |
| Körperarbeit zu machen“, sagt sie. Als Masseurin habe sie gemerkt, dass Tod | |
| und Verlust in jedem stecken, die Geister von Verstorbenen quasi Einzug in | |
| den Körper der Lebenden finden. | |
| Mit „Über Leben“ hat Maki Shimizu einen Blick in die Abgründe unserer | |
| Gesellschaft geworfen und zeichnerisch hervorgeholt, was gern verdrängt | |
| oder vergessen wird. Ihre Erzählung erfolgt nicht linear, wie auch das | |
| Leben nicht linear verläuft. Sie ist verwirrend, aufwühlend, schockierend | |
| und trotzdem schön, weil sie das Leben zeigt, ohne Euphemismus, ohne | |
| Kitsch. Gleichzeitig ist es eine Liebeserklärung an die Hauptstadt, oder um | |
| es mit den Worten des ersten Käufers der Graphic Novel zu sagen: Diese | |
| Geschichte „riecht nach Berlin.“ | |
| 31 Jul 2021 | |
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| ## AUTOREN | |
| Sophia Zessnik | |
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